Foto: Selfapy

„Dank der Anonymität bei einer Online-Therapie kann man offen und frei über Probleme sprechen“

Katrin Bermbach, Nora Blum und Farina Schurzfeld sind drei unserer „25 Frauen, deren Erfindungen unsere Welt verändern” – sie haben die psychologische Online-Betreuung Selfapy gegründet, um Menschen mit psychischer Erkrankung eine professionelle Hilfe an die Hand, während sie auf einen Therapieplatz warten.

Online-Therapie als erste Hilfe?

Alle vier Minuten, versucht sich jemand das Leben zu nehmen – die Ursache dafür ist häufig eine psychische Erkrankung. Und auch die Zahl der Fehltage im Job aus psychischen Gründen hat sich in den letzten 20 Jahren mehr als verdreifacht. Doch wer Hilfe benötigt, braucht meist einen langen Atem. Hat man einmal die erste Hürde genommen, sich einen einen Therapieplatz zu suchen und professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, wartet man in Deutschland monatelang. Zumindest, wenn man auf die Kostenübernahme durch die Krankenkasse angewiesen ist.

Eine neue Lösung, um Menschen während dieser Wartezeit auf einen Therapieplatz nicht mehr alleine zu lassen oder aber jenen Hilfe zu bieten, die lieber anonym betreut werden möchten, bietet die im Jahr 2016 gegründete psychologische Online-Betreuung Selfapy. Wir haben mit den Gründerinnen Katrin Bermbach, Nora Blum und Farina Schurzfeld über die Möglichkeiten der Online-Therapie, wem sie damit wie Hilfe leisten können und über die gerade erhaltene Millionenfinanzierung gesprochen. 

Ihr habt mit Selfapy ein Online-Therapieportal für Menschen mit einer psychischen Erkrankung ins Leben gerufen. Wie kann man sich das konkret vorstellen und bei welchen Erkrankungen bietet ihr Hilfe?

Kati: „Angefangen haben wir 2016 mit einem Kurs gegen Depressionen. Mittlerweile bieten wir zudem Kurse gegen Stress, Angst– und Essstörungen an. Die Kurse dauern neun Woche und werden primär online bearbeitet. Dazu gibt es informative Texte und Videos sowie Übungen, die teilweise auch ‚offline’ stattfinden. Auf Wunsch werden unsere Nutzer von einem Psychologen begleitet, mit dem sie einmal pro Woche ein Telefon- oder Chatgespräch führen können. Die Kurse basieren alle auf den Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie.“

Es geht vor allem darum, die Menschen während der Wartezeit auf einen Therapieplatz nicht alleine zu lassen – die Therapie selbst wollt und könnt ihr nicht ersetzen, richtig?

Nora: „Genau, wir möchten die herkömmliche Psychotherapie nicht ersetzen. In Deutschland warten Betroffene jedoch durchschnittlich bis zu sechs Monate auf einen Therapieplatz. Unser Ziel mit Selfapy ist es, diese Wartezeit sinnvoll zu überbrücken. Außerdem können unsere Kurse in der Prävention sowie in der Nachsorge, zum Beispiel nach einem stationären Aufenthalt zum Einsatz kommen. Für manche Betroffene lässt sich eine Online-Therapie auch einfach in den Alltag integrieren, da die Kurse flexibel bearbeitet werden können und die Gespräche von zu Hause am Telefon geführt werden.“

Ist es denn sinnvoll, eure Kurse mit einer klassischen Therapie zu verbinden? Denn selbst wenn man es geschafft hat, dass die Krankenkasse Therapiestunden übernimmt, sind das manchmal weniger als benötigt oder aber es kommt zu Situationen, in denen Therapeuten im Urlaub und für die Patienten nicht erreichbar sind.

Nora: „Ja, das ist absolut möglich und aus den von dir genannten Gründen sinnvoll. Nach Absprache können Therapeuten einen speziellen Zugang zu den Kursmaterialien ihrer Patienten bei uns erhalten und deren Symptomverlauf im Selfapy-Programm tracken.“

Eine psychische Erkrankung ist immer noch ein Tabu-Thema. Wie ist eure Erfahrung bzw. die Rückmeldung der Nutzer: Habt ihr viele Menschen, die zuvor noch nie in Therapie waren und gut auf den niedrigschwelligen Kontakt reagieren? Und verfolgt ihr, ob eure Nutzer nach euren Kursen auch wirklich weitere Hilfe aufsuchen?

Farina: „Es hängt teilweise stark vom jeweiligen Störungsbild ab, ob unsere Nutzer bereits Therapieerfahrung haben oder nicht. Besonders beim Depressionskurs sind Menschen dabei, die schon vieles ausprobiert haben und sich durch den noch recht jungen Ansatz der Online-Therapie quasi frischen Wind versprechen. Aber tatsächlich auch viele, die noch keinen Therapieplatz gefunden haben oder sich noch nicht getraut haben, diesen Schritt zu gehen. Uns ist wichtig, dass der Kontakt über die neun Wochen des Kurses hinaus bestehen bleibt. Zum einen führen unsere Psychologen daher sechs Wochen nach Kursende ein Follow-Up-Gespräch. Zum anderen sind viele der Nutzer in unserem Online-Forum aktiv und berichten hier auch nach Kursende, wie es ihnen ergangen ist. Viele von denen, die auf der Suche nach einem Therapieplatz waren, finden während ihrer Zeit bei Selfapy auch einen.“

Kati, du hast als Forschungsmitarbeiterin an der Charité gearbeitet und kennst die teils prekäre Versorgungslage für Menschen mit einer psychischen Erkrankung deshalb gut. Warum müssen Menschen mit Burnout, Depressionen oder Angststörungen in der Regel so lange auf eine Therapie warten?

Kati: „Wie Nora bereits erwähnt hat, kann die Wartezeit oft bis zu sechs Monate dauern. Im Durchschnitt waren Betroffene rund drei Monate auf einen ersten Gesprächstermin, darauf folgen nicht selten weitere drei Monate bis zum Therapiebeginn. Das Problem besteht unter anderem, weil in Deutschland nur eine begrenzte Anzahl an Psychotherapeuten eine Kassenzulassung erhalten. Bei diesen übernehmen die Krankenversicherungen die Kosten für eine Behandlung. Selbstzahler können also durchaus schneller bei einem Therapeuten anfangen. Hinzu kommt, dass immer mehr Menschen sich in therapeutische Behandlung begeben. So suchten 2011 rund 50 Prozent mehr Menschen einen Therapieplatz als noch zehn Jahre zuvor.“

Am besten wäre ja eigentlich, eine App wie Selfapy müsste es gar nicht geben. An welchen Schrauben müsste im Gesundheitssystems gedreht werden, um allen einen Therapieplatz zu ermöglichen, die ihn benötigen?

Kati: „Dazu müssten mehr Psychotherapeuten die Kassenzulassung erhalten. Außerdem sollte es für Therapeuten Pflicht sein, eine Warteliste zu führen. Viele tun das nicht und vergeben freie Plätze einfach an den nächsten Anrufer. Nichtsdestotrotz gibt es auch immer Menschen, die – auch wenn sie einen Psychotherapieplatz bekommen – sich von sich aus zunächst für eine Online-Therapie entscheiden.“

Wie hoch sind die Kosten für euer Programm und wie gut stehen die Chancen, dass diese von der Krankenkasse übernommen werden.

Farina: „Wir bieten unsere Kurse in verschiedenen Paketen an, die bei 15 Euro für einen Schnupperkurs beginnen. Ein begleiteter Kurs mit eigenem Therapeuten ist teurer. Hierbei bekommt  die Person wöchentliche Telefonate mit einem Psychologen. Die Kosten unseres Kurses gegen Stress werden bereits bis zu 100 Prozent von den Krankenkassen erstattet. Es laufen bereits Gespräche, damit auch die Kosten der Kurse gegen Depression, Angst- und Essstörungen übernommen werden.“

Vertrauen ist in einer solchen Betreuung ein wichtiger Faktor. Wie schaffen eure Psychologen das, dieses Vertrauen in neun Wochen und per Chat aufzubauen?

Kati: „Aktuell arbeiten bei uns 17 Psychologen, je nach Bedarf haben wir weitere, die für uns arbeiten. Sie alle bringen Erfahrungen aus dem klinischen und gesundheitspsychologischen Bereich mit und sind den Umgang mit Patienten gewohnt. Sie können gut zuhören, bieten neue Sichtweisen an und motivieren unsere Nutzer Woche um Woche. Ein wichtiger Punkt bei der Online-Therapie ist natürlich der Datenschutz: Wir folgen strengen Datenschutzrichtlinien, die in regelmäßigen Abständen kontrolliert und aktualisiert werden. Die Anonymität unserer Nutzer ermöglicht es ihnen oftmals viel offener und freier über ihre Probleme zu sprechen.“

Können die Nutzer die Psychologen in akuten Fällen auch außerhalb der wöchentlichen Gesprächen erreichen?

Nora: „Wir haben zwar eine Hotline, unter der unser Psychologen-Team täglich von 8 Uhr bis 22 Uhr erreichbar ist. Diese ist jedoch nicht für akute Fälle gedacht. In einer Krisensituation sollte sich jeder stets zum Beispiel an die Telefonseelsorge (0800 111 0 111) oder auch den Notruf unter 112 wenden
.“

Wie viele Menschen haben euer Angebot seit der Gründung in Anspruch genommen und welche Erkrankungen kommen besonders häufig vorkommen?

Farina: „Seit Anfang 2016 konnten wir rund 2.000 Menschen helfen. Dabei ist unser Kurs gegen Depressionen ganz klar der meist gebuchte, gefolgt vom Stresspräventionskurs. Unsere Kurse gegen Essstörungen haben wir erst vor einigen Monate gelauncht, doch auch hier gibt es bereits zahlreiche Anmeldungen.“

Ihr habt gerade eine Millionenfinanzierung erhalten. Herzlichen Glückwunsch! Wie hoch ist die Summe und wer ist bei der Finanzierungsrunde mit dabei?

Alle: „Danke!“

Nora: „In dieser zweiten Runde konnten wir rund 1,5 Millionen Euro einsammeln. Das Geld kommt vom High-Tech Gründerfonds (HTGF), von der IBB Beteiligungsgesellschaft und von einigen etablierte Business Angels sowie Investoren aus unserer ersten Finanzierungsrunde.“

In welche Bereiche soll das Geld investiert werden?

Farina: „Wir werden die Investition nutzen, um unsere Produkte weiterzuentwickeln, unser Angebot auszubauen und eine App zu entwickeln. Außerdem möchten wir damit den Prozess mit den Krankenkassen weiter vorantreiben, damit alle Kurse erstattet werden.“

Im vergangenen Jahr hat das Startup Humly, die ein ähnliches Angebot hatten, Insolvenz angemeldet. Wieso schafft ihr, was sie nicht geschafft haben?

Kati: „Der große Unterschied zwischen Selfapy und Humly liegt in den persönlichen Psychologengesprächen, auf die wir großen Wert legen und die größtenteils via Telefon laufen. Möglicherweise hat diese menschliche Komponente bei Humly gefehlt. Unser Erfolg liegt sicherlich auch darin, dass unser gesamtes Team voll und ganz hinter Selfapy steht und wir mit viel Herz bei der Sache sind.“

Könnt ihr verstehen, wenn Menschen einer Online-Therapie kritisch gegenüberstehen?

Nora: „Da die Online-Therapie noch sehr jung ist, ist eine gewisse Skepsis verständlich. Die Wirksamkeit von Online-Therapie wurde jedoch in zahlreichen Studien bewiesen. Eine Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf hat 2016 unseren Depressionskurs evaluiert und gezeigt, dass die Symptome der Depression signifikant reduziert wurden. Psychologisch begleitete Selbsthilfe kann ebenso wirksam sein wie die Therapie ganz klassisch in der Praxis.“

Wo seht ihr euch in einem Jahr, was wollt ihr bis dahin mit Selfapy erreicht haben?

Farina: „Wir hoffen, dass bis dahin alle Krankenkassen die Kosten unsere Kurse gegen Depressionen, Angst und Essstörungen erstatten und so jedem Betroffenen eine schnelle, anonyme und flexible Behandlung ermöglichen – unabhängig von der finanziellen Situation oder Scham. Unser Ziel ist es in Deutschland, Österreich und der Schweiz, aber auch im Ausland zu einer der wichtigsten Anlaufstellen für Menschen mit psychischen Erkrankungen zu werden.“

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