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So sehr setzt Stress unserem Körper zu

Heutzutage scheinen wir uns oft gegenseitig mit unseren vollen To-Do-Listen und Terminkalendern übertreffen zu wollen. Dabei ist Stress überhaupt nicht cool, Stress macht krank!

 

Das Thema Stress ist überpräsent?

Ein paar Eingangsfragen: Findest du, dass die Diskussion über Stress
überflüssig ist, weil Stress nur Leute empfinden, die zu sensibel sind? Findest du, dass Adrenalin dein Lieblingshormon ist und Ruhephasen Verschwendung der Lebenszeit? Hast du Zipperlein, die du wegdenkst? Oder vielleicht auch gesundheitliche Beschwerden, obwohl dir der Arzt absolute Gesundheit bescheinigt?

Beispiele gefällig?

Dr. Hansdampf, erfolgreicher Manager einer Finanzdienstleistung, verzichtet in letzter Zeit auf Kaffee, seinem Lieblingsgetränk. Das Sodbrennen ist mittlerweile so stark und man hat ihm gesagt, er solle Kaffee und Alkohol meiden. Nach Magenspiegelungen und diversen Arztbesuchen hat man ihm gesagt, es sei alles okay. Das ist ja an sich schön. Die Pillen zur Reduzierung der Magensäure liegen in seiner Schublade und sind fast leer – bringen tun sie aber nicht viel. Aber egal, ab zum nächsten Meeting. Wird schon vorbei gehen.

Frau Michel, Personalleiterin eines Konzerns, ist eine starke Frau. Sie hat sich hochgearbeitet – von ganz „unten“. In letzter Zeit quälen sie Rückenschmerzen. Sie hat alles durch: Untersuchungen, MRT, Röntgen – es ist alles in Ordnung. „Verschleiß“, sagt der eine Arzt, „psychosomatisch“, der andere. Verschleiß? Sie ist doch erst 38 Jahre alt, denkt sie. Aber eine Creme soll ja helfen, Wärmepflaster sind gekauft, etwas Sport kann nicht schaden. Sie erhebt sich langsam von ihrem Sitzball, ab zum nächsten Termin. Wird schon wieder weggehen.

Unzählige Menschen rennen mit verschiedenen Schmerzsymptomen von Arzt zu Arzt. Unerträgliche Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Rückenschmerzen. Die Diagnose lautet: Sie sind gesund!

„Was stimmt nicht mit mir?”…

…fragen sich diese Menschen. „Bilde ich mir es vielleicht nur ein?” Aber wie kann man sich etwas einbilden, das so ätzend schmerzt und es fast unmöglich macht
zu arbeiten und das Leben zu genießen? „Bin ich verrückt?”, „Warum nimmt mich mein Arzt nicht ernst und sagt nur: ,Naja, in Ihrem Alter …‘ oder ,Das ist
psychosomatisch‘ (mit anderen Worten: ,Keine Ahnung, was das ist, aber
psychosomatisch passt immer’).”

Also geht es weiter zum nächsten Arzt, zum übernächsten. Wenn das alles
nichts hilft, zur Akupunktur, zum Heilpraktiker, zum Kinesiologen, zum Yoga, zum Physiotherapeuten, zum Wahrsager. Die Medizin und ihre angrenzenden Heilberufe verdienen prächtig.

Letztendlich stehen diese Menschen dann häufig immer noch mit
Schmerzen und zunehmender Verzweiflung da, weil die Hoffnung auf Schmerzlinderung immer stetiger sinkt, die Schmerzen eventuell sogar im Laufe des Ärztemarathons genauso wie die Gesundheitsausgaben noch ansteigen, um vielleicht letztendlich zu hören: „Sie sind Schmerzpatient“, „Das ist chronisch.”, „Das ist ihr Schmerzgedächtnis.”, „Da können wir nix machen.”

Je leistungsbereiter, desto gefährdeter

Diese Menschen „funktionieren“ so lange es geht, nach außen weiterhin einwandfrei. Es trifft besonders ehrgeizige, leistungsbereite Menschen – und Menschen, die nie gelernt haben „nein“ zu sagen, die viel Verantwortung tragen, zur Freundlichkeit erzogen wurden, vieles schultern müssen und hilfsbereit – fast aufopferungsvoll – gegenüber ihren Mitmenschen sind, dabei jedoch wenig zurückbekommen. Glaubenssätze aus der Kindheit wie „Stell dich nicht so an!”, „Männer weinen nicht!”, „Beeil dich!” und „Was uns nicht umbringt, macht uns härter!”, tragen ihr Übriges dazu bei.

Mittlerweile fragen sich Forscher und Wissenschaftler, ob (dauerhafter) Stress noch ganz andere, viel tiefere Auswirkungen hat, als bisher angenommen. Dass er vielleicht für Schmerzen verantwortlich ist und sogar genetische Veränderungen bewirken kann.

Stressvervielfachung in den letzten 20 Jahren

„Ich  bin gestresst“ – diese Aussage ist ja mittlerweile ein Statussymbol. Menschen, die gleich auf eine E-Mail antworten, die kurzfristig Zeit für ein Telefonat haben oder am Arbeitsplatz sitzen und nicht in der Gegend rumreisen, müssen ja schon fast bedauernswerte Wesen sein, die nix zu tun haben, keine Kunden haben oder schlichtweg faul, aber auf jeden Fall erfolglos sind.

„Ich habe Zeit“ – ebenso eine Aussage, die uns unweigerlich zu der Annahme
führt, dass dieser Mensch doch eine arme Sau sein muss, denn wer Zeit hat, hat
wenig Geld.

Auf dieses von der Wirtschaft gewünschte Verhalten werden wir
immer früher getrimmt. Während ich z.B. in meiner Kindheit noch Zeit hatte nachmittags wirklich zu spielen, werden die Kids heute vollgestopft mit Terminen (Ballett, Klavier, Chinesisch). Während der Schulzeit war damals nach den Hausaufgaben spätestens um 15 Uhr Schluss – heute sitzen Achtjährige wie
ein Vollzeit-Angestellter 40 Stunden in der Schule, an den Hausaufgaben, bei der Nachhilfe.

Hallo, Burnout

So schön es ist, dass in Deutschland eine geringe Arbeitslosigkeit herrscht
– es darf uns nicht täuschen. Die, die arbeiten, leisten heute so viel wie damals drei bis vier Angestellte zusammen. Dank der Technik ist das möglich. Und dank der Erziehung von Klein auf.

Und dann wundern sich alle, dass das „Burnout“-Syndrom (übrigens immer
noch keine Diagnose als solche) diese beängstigenden Zahlen erreicht? 
Wo führt das hin? Was erwartet die Wirtschaft bloß erst 2040 von uns?

Weg mit den Vorurteilen und: Es gibt keinen guten Stress

Menschen, die viel Stress haben und dadurch keine vordergründige Belastung
verspüren, mögen denken:

– Wer Stress nicht abkann, sollte was anderes machen, Schafe hüten oder so …

– Wer zu sensibel und dünnhäutig ist, hat in der heutigen Wirtschaft nichts verloren …

– Stellt Euch nicht so an, ich schaffe es doch auch …

– Für mich ist Stress positiv, er verleiht mir Kraft und Energie …

Das Blöde ist: ob CEO und Freizeit-Iron-Man, Mutter, Sexsymbol und
Geschäftsfrau in einem oder ein ganz „normaler“ Mensch: Stress ist Stress und
nix anderes. Es gibt keinen Eustress, also guten Stress, das ist völliger Blödsinn. Unseren Zellen ist es egal, ob wir physische Gewalt erleben oder der Chef uns
runterputzt. Beides wird von ihnen als „Schmerz“ empfunden – und ausgedrückt.
[1]  

Was passiert bei Stress?

Die schlechte Nachricht lautet: Wir ticken alle grundsätzlich gleich. Unserem
Körper ist es egal, welches Auto wir fahren und in welches Restaurant wir
gehen. Stress macht uns alle kaputt. Die gute Nachricht: Wir haben ein wunderbares Überlebenssystem im Laufe von Millionen von Jahren entwickelt.

Kommt zum Beispiel mitten auf der Einkaufsstraße ein Löwe mit fletschenden Zähnen auf uns zugelaufen, denken wir nicht mehr an Einkaufen, Fortpflanzung oder Ernährung, wir wollen nur noch weg – und werden viel schneller laufen können als bei den Bundesjugendmeisterschaften damals. Dank der Katecholamine bei kurzfristigem Stress: Adrenalin und Noradrenalin, dank der Glukokortikoide bei langfristigem Stress: CRH und Vasopressin.
[2]
Parallel sinkt dazu das DHEA (Dihydroxyepiandosteron). Durch diese Glukokortikoide wird das Hormon Cortisol produziert.

Cortisol ist lebenswichtig

Cortisol ist ein lebensnotwendiges Steroidhormon, das in der
Nebennierenrinde gebildet und schubartig etwa sieben- bis zehnmal täglich
freigesetzt wird. Die Regulation der Ausschüttung von Cortisol erfolgt über die Hypothalamus- Hypophysen- Nebennieren-Achse. Vereinfacht
gesagt misst der Hypothalamus (der „Chef”) die im Blut kursierende
Cortisolmenge und spricht sozusagen mit der Nebenniere die Menge der benötigten Cortisol-Ausschüttung ab.
Ohne Cortisolausschüttung würde der Mensch binnen weniger Tage sterben.

Wie in den meisten hormonellen Regelkreisen gibt es aber auch hier ein negatives Rückkopplungssystem, das die Produktion des jeweiligen Hormons begrenzt. Ist genug vorhanden, wird nicht noch mehr ausgeschüttet.  Übermäßiger Stress stört die Rückkopplungssysteme und kann zu Fehlregulationen führen.

Gefahr der Fehlregulation

Die exzessive Ausschüttung von Cortisol signalisiert dem Körper, dass er sich in großer Gefahr befindet und lässt zudem die negative Rückkopplung mit zunehmender Zeit abstumpfen. Hält der Stress weiter an, kann er als chronischer Stress dazu führen, dass die Nebennieren erschöpfen und nicht mehr in der Lage sind, genügend Cortisol zu produzieren. Niemand kann über lange Zeit kontinuierlich 150 Prozent der normalen Leistung erbringen, deine Nebennieren leider auch nicht.

Folgen der Fehlregulation

Bei anhaltend stark erhöhtem Cortisolspiegel aufgrund von Stress, Fehlernährung oder Einnahme von Cortisolpräparaten ergeben sich schwerwiegende Folgen (es gibt noch mehr als die unten aufgeführten, aber das sollte erst einmal reichen): 

– Bluthochdruck, unterdrückte Immunabwehr, also höhere
Risiken einer Infektionserkrankung

– Bei Dauerstress altert das Immunsystem schneller

– Verringerte Bildung von Geschlechtshormonen
(Gonadotropine), sexuelle Unlust, Unfruchtbarkeit

– Dauerhaft erhöhter Blutzuckerspiegel und hohe
Insulinbelastung, dadurch beschleunigte Alterung und Förderung degenerativer Erkrankungen in allen Geweben und Organen, Diabetesgefahr

– Hoher Blutzuckerspiegel und Insulinresistenz fördern
die Verfettung

– Wassereinlagerung in den Geweben

– Abbau von Knochenmasse (Osteoporose)

– Schädigung von Sehnen, Bändern, Bandscheiben und
Gelenkknorpeln

– Abbau von Muskelmasse

– Bindegewebsschäden

– Beschleunigte Alterung und Faltenbildung der Haut

– Haarausfall, ergraute Haare

Überall Wellnessangebote – aber wir sind so krank wie noch nie

Wir wissen über Gesundheit so viel wie nie zuvor. Und trotzdem werden
wir immer kranker. Eventuell sind viel mehr Menschen „stresskrank“ als wir
ahnen. Aber was würde das für die Krankenkassen bedeuten, wenn sie das anerkennen würden? Kosten über Kosten. Trotzdem: es gibt mutige Forscher, die sich kümmern, auch, wenn es noch keine Diagnose „stresskrank“ gibt.

Eine Trierer Forschergruppe und das Team um Prof. Holsboer, Leiter des
Max-Planck-Instituts für Psychiatrie, arbeitet an Therapien, die den
Cortisolhaushalt wieder ins Gleichgewicht bringen: 
„Wir entwickeln Substanzen, welche sich gezielt an die CRH-Rezeptoren im Gehirn koppeln. Die Rezeptorzellen wären damit für das CRH blockiert – der Botenstoff kann seine Wirkung nicht entfalten.” Die Forscherin dämpft jedoch gleichzeitig die Erwartungen: „Bis die ersten Medikamente auf den Markt kommen, werden noch Jahre vergehen.”

Welche Zusammenhänge gibt es bei Stress und Schmerz?

Stress und Schmerz haben also etwas gemeinsam: das vegetative Nervensystem. Es besteht u.a. aus dem Parasympathikus – dem „Ruhenerv“, der für Erholung und den Aufbau körpereigener Reserven steht. Dem Sympathikus, der für  Leistungssteigerung („Gas“) steht. Beide sind Partner – oder auch Gegenspieler. Wenn es keine langfristige Balance der „Entlastung“ gegenüber der „Belastung“ gibt, dann werden wir krank. Ist doch logisch, oder?

Schmerzen können also auch aus der Dysbalance des vegetativen Nervensystems entstehen. Denn dieses ist mit zahlreichen Organen verbunden:
Darm, Leber, Niere, Kehlkopf, Bronchien, Speiseröhre, Augen, um nur einige zu
nennen. Es liegt daher nahe: viele „psychosomatische“ Beschwerden können hier liegen: Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit, Sodbrennen, Rückenbeschwerden,
Magenprobleme, Herzrasen. Die medizinische Diagnostik zeigt trotzdem: Blutwerte sind okay. EKG: okay. MRT: okay – „Sie sind gesund!”

Ein Gedanke so zwischendurch: Heilpraktiker kennen das Phänomen schon lange. Hippokrates (460-370 v. Chr.!) wusste davon. Nicht ohne Grund ist das Wort „Sympathikus“ hergeleitet aus dem Altgriechischem: „Mitleiden“. Wann sprechen Heilpraktiker, Krankenkassen und Chefärzte endlich einmal auf Augenhöhe miteinander, um den Menschen zu helfen, die darunter leiden?

Große Unterschiede im Stressempfinden bei Männern und Frauen

Frauen haben eine bis zu zwei- bis dreimal höhere Stressaffinität als Männer. Liebe Geschlechtsgenossinen, bitte nicht gleich zum AGG greifen. Es sind
wissenschaftliche Erkenntnisse von Prof. Alon Chen, des Max Plack Instituts München. der sich jahrelang mit dem Phänomen Stress beschäftigt.

Es ist ja eigentlich auch klar: die Evolution hat folgende, sorry, Rollenteilung vorgesehen: Frauen ziehen den Nachwuchs groß, Männer gehen jagen.
In unserer Zeit machen die Frauen beides. Aber codiert sind wir genetisch
anders. Das macht auch Sinn. Sonst würden wir unsere Babies liegen lassen, um
endlich mal wieder ein Mammut zu erlegen. Das ist laut Natur nicht Sinn der
Sache.

Dünn- und Dickhäuter

Ja, es gibt Dick- und Dünnhäuter, Menschen, die so resistent sind, dass an
ihnen alles vorbeizuziehen scheint, ohne Spuren zu hinterlassen und Menschen,
die nur einen kleinen Schutzwall haben und durch die „alles hindurchgeht“, die
sich viel „zu Herzen nehmen“, die „verletzlicher“ sind. Unsere Wirtschaft aber fordert etwas anderes. Und deshalb ist „Dünnhäutigkeit“ gleichbedeutend mit „schwaches Mädchen“. Wer will das schon? Also entwickeln wir Verhaltensweisen, damit bloß die Anderen nicht merken, wie sehr uns Dinge beschäftigen. Das Blöde daran ist: Unser Nervensystem lässt sich nicht täuschen. Es zeigt uns klipp und klar: Hier hast du eine Grenze überschritten. Erst zaghaft, mit so ein paar Dingen wie mal etwas Sodbrennen hier, mal etwas Bauchweh dort. Dann öfter. Und dann dauerhaft.

Was ist zu tun?

Zuerst hilft es schon einmal sehr, mehr darüber zu wissen. Sich selbst überprüfen, wie man mit Be- und Entlastung umgeht und ob die Gefahr einer Dysbalance besteht oder vielleicht sogar schon längere Zeit eine vorliegt. Außerdem kann man zum „Inneren Gesundheitsmanager” werden. Die Balance zwischen Be- und Entlastung üben (zum Beispiel mit einem Übungsbuch). Bei Beschwerden: Zum Arzt gehen – auch, wenn es gefühlt „nur Zipperlein“ sind. Ansprechpartner, die sich auskennen, sind Endokrinologen (Fachärzte für Hormon- und Stoffwechselstörungen) und Psychiater, teilweise Psychologen. Und man kann sich im Klaren darüber werden: Was über viele, viele Jahre gewachsen ist, kann nicht von heute auf morgen besser werden. Üben sich zu entlasten, nicht nur körperlich. Auch im Kopf (vgl. Konzept: Selfempowerment und Selfentpowerment).

Hinweis: Dieser Artikel stellt in keinster Form eine medizinische Beratung dar.


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