Foto: Jason Blackeye | Unsplash

Mein Praktikum im EU-Parlament: Bürokratie und Abschottung statt kämpfen für Europa

Ich habe im Europäischen Parlament gearbeitet. Die Europäische Idee leben – als Politikwissenschaftlerin eigentlich ein Traum.

 

Europa: eine Idee

Ich bin 2016 für ein Praktikum nach Brüssel ins Europäische Parlament gegangen. Acht Wochen und einen Terroranschlag später verließ ich überglücklich eben dieses Gebäude. Überglücklich, weil es mein letzter Tag in diesem Gebäude war. All mein Frust, meine Enttäuschung und meine innere Unzufriedenheit waren dank des dunklen kräftig-süßem belgischen Bier von der Bar gegenüber wie weggespült, ich fühlte mich einfach erleichtert.

Nicht nur ich habe das Gefühl, dass sich unsere Welt mitsamt unseren demokratischen Werten einem gefährlichen, tiefbraunen Abgrund nähert. Nach dem Wahlsieg Trumps im Land der unbegrenzten Möglichkeiten und dem Erstarken rechtspopulistischer Parteien fast überall auf dem europäischen Kontinent, gerät der Boden des Altiero-Spinelli-Gebäudes mächtig ins Wanken. Für mich ein weiterer Grund über meine persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen aus der Zeit in der europäischen Hauptstadt zu berichten.

Stolz, aber auf was eigentlich?

Nie wurde ich gefragt, weshalb ich im Europäischen Parlament arbeitete. Was mich antreibt? Schien auch nicht sonderlich wichtig zu sein, solange man irgendwie dazugehörte. In schönen Anzügen und feinen Schuhen präsentierte man seinen Ausweis voller Stolz. Insbesondere an den Donnerstagabenden auf dem Plux (Place de Luxembourg) „vergaß” man doch mal ganz gerne, dass das „ich-arbeite-im-europäischen-Parlament“-Erkennungszeichen noch für jedermann sichtbar war. Nachdem man sich dann ordentlich die Kante gegeben hat, fuhr man am frühen Freitagnachmittag schnell zurück nach Deutschland. War ja auch sau teuer alles …

Die junge Frau, die nun im Europäischen Viertel arbeitete, wurde plötzlich von den Zuhausegebliebenen bewundert. Neben dem – nun ehemaligen – türkischen Ministerpräsidenten Davutoğlu, habe ich nicht nur Schulz und Mogherini, sondern auch Martin Sonneborn gesehen. Das kommt irgendwie bei jedem ganz gut an, klingt spannend und aufregend.

Tatsächlich wollte ich doch viel mehr: Etwas verändern, mitwirken, beobachten und ein wenig Mäuschen spielen, ohne aber wie eines behandelt zu werden. Aber in der Realität ging es immer wieder um andere Dinge. Kurz nachdem mir intern nahe gelegt wurde, an jenen spektakulären Donnerstagabenden besser nichts mit Assistenten der Abgeordneten anzufangen (es komme sowieso alles früher oder später ans Licht), habe ich aufgehört mich ordentlich zu kleiden. Von einem europäischen Zugehörigkeitsgefühl keine Spur.

13.30 Uhr – Mittagessenszeit in Brüssel

Um halb zwei wurde Mittag gegessen. Allerdings nur mit Praktikanten – und bitte nur mit deutschen Praktikanten, vorzugsweise aus derselben Partei. Es tat mir in der Seele weh. Mein ohnehin schon ödes Käsesandwich hätte ich um einiges lieber bei Gesprächen über den EU-Türkei-Deal oder die Fluchtproblematik zusammen mit politischen Beratern aus Italien, Spanien oder Griechenland vertilgt. Stattdessen unterhielt man sich darüber, wo man die besten Fritten der Stadt findet oder wann die nächste Eurobubble-Party steigt.

Als Praktikant befindet man sich eben ganz unten in der Nahrungskette – das muss man einfach akzeptieren, oder? Meine Zigarettenpause am Nachmittag war mir heilig. Nicht nur, weil ich das Nikotin nach einigen Stunden bereits vermisste; in diesen fünf bis neun Minuten konnte man tatsächlich in den europäischen Parlamentsalltag eintauchen. Nicht sonderlich lange – aber immerhin, man nimmt, was man kriegen kann: Assistenten, die ihren Abgeordneten in letzter Sekunde die wichtigsten Informationen auf dem Weg zum nächsten Treffen zuspielten, Sicherheitsbeamte, die hektisch mit Absperrbändern versuchten, Besucher von internationalen Staatspräsidenten fernzuhalten, Kollegen, die neben mir im gläsernen Raucherkasten regelrecht Dampf abließen. In diesen wenigen Minuten fühlte ich mich in gewisser Weise dazugehörig. Als kleines Rädchen einer riesigen Maschinerie. Problemlos austauschbar und dennoch nicht unwesentlich für das große Ganze.

Und wo bleibt nun das übergeordnete europäische Zusammengehörigkeitsgefühl?

Ich saß in der, gefühlt 49389. Veranstaltung über die möglichen, folgenschweren Konsequenzen für die Europäische Union im Falle eines EU-Austritts Großbritanniens. Vertreter der europäischen Institutionen, Journalisten, Lobbyisten und Praktikanten, wir alle hörten zu und waren zutiefst bestürzt. „One hundred days left” – dann sollte die Abrechnung für die europäische Gemeinschaft kommen. In Zukunft wird sich England wieder voll und ganz um dessen eigenen nationalen Schwierigkeiten kümmern dürfen.

Doch in der Zwischenzeit wurden Schwächen und Unsicherheiten in Brüssel selbst überspielt. Während man im gleichen Atemzug dem außenstehenden Rest der Gemeinschaft über die Notwendigkeit eines vereinten Europas aufklärte, vergaß man selbst etwas zu unternehmen. Nicht nur Cameron hatte zu hoch gepokert …

Eine Mischung aus Langeweile und ein wenig Kaffeegeplauder bestimmten weiterhin meinen europäischen Alltag in den grauen Gebäuden. Wäre es nicht die Chance gewesen? Ich träumte: Wir – die teils unter– oder sogar unbezahlten Praktikanten – wir steigen auf die Barrikaden – stattdessen war es meine Aufgabe, mit acht unterschiedlich-farbigen Stiften einen Stapel Unterlagen nach Fraktionen zu markieren.

Funkelnde Sterne auf blauem Grund

Immer dann, wenn mit unentgeltlichen Happen vor oder nach einer Veranstaltung geworben wurde, dann traf man nicht nur auf ausgehungerte Praktikanten, sondern manchmal auch auf kreative, temperamentvolle und smarte Köpfe aller europäischen Länder. Und immer dann kam ein echtes europäisches Gemeinschaftsgefühl in mir auf. Selbstverständlich hat dieses Gefühl weniger mit den europäisch-bürokratischen Strukturen in Brüssel zu tun, es wurde vielmehr von Sympathie, gegenseitigem Interesse, Neugier und Freundschaft ausgelöst.

Diese kleinen, funkelnden Momente konnten einen, einen kleinen Blick auf eine mögliche glanzvollere Zukunft erhaschen lassen. Diese Momente machten mir Hoffnung. Aber bei aller Liebe und Überzeugung für das größte Friedensprojekt aller Zeiten: Starre Strukturen, Machtspielchen, extremer Nationalismus und ein hässlicher Sexismus gehören für mich nicht zum Kern der europäischen Idee. Offenheit, Mut zu Neuem, Mitgefühl und ein gewisses Maß an Selbstironie würden genau jetzt nicht schaden. Wir müssen aufhören, alles für selbstverständlich zu halten und endlich wieder für die wahre Idee hinter Europa einstehen. 


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