Foto: Unsplash | Marius Ciocirlan

Wie ich erst durch ein Uni-Projekt merkte, dass ich voll die Wessi bin

Unsere Autorin wuchs in Nordrhein-Westfalen auf und fand das Thema DDR immer viel zu verstaubt − bis sie im Rahmen eines Uni-Projektes eines Besseren belehrt wurde.

Vor etwa 15 Jahren sah ich im Fernsehen, wie eine alte Dame auf der Straße einer ostdeutschen Stadt von einem Nachrichtenteam angesprochen wurde. Sie kam gerade aus dem Kino und hatte sich Good Bye, Lenin! angeschaut, einen Streifen aus dem Jahr 2003, in dem eine Ostberlinerin im Koma liegt, als 1989 die Mauer fällt. Sie „verschläft“ die Wiedervereinigung.

Nun betrachtete ich in der Realität diese andere Frau, kurzes Haar, beiger Anorak, in den Nachrichten. Eine Reporterin fragte, ob ihr der Film gefallen habe. In meiner Erinnerung regnete es im Hintergrund, als sich die Augen der Frau unverhofft mit dicken Tränen füllten und es dann aus ihr herausplatzte: „Die DDR gibt es nicht mehr!“

Diese Sequenz erzählte von einer Trauer, bei der es um etwas Absolutes geht, wie um eine verlorene Freundin oder ein Leben, das vergangen ist. Das Bild der weinenden Frau hat sich in mein Gedächtnis gebrannt. Ich habe es nie vergessen, weil ich es nicht verstanden habe. Es widersprach allem, was ich in den folgenden Jahren über die DDR lernen sollte: gab es mal, gibt es nicht mehr, will niemand mehr, Punkt.

Westdeutsche zu sein, ist ein Privileg

Meine Eltern sind vor mehr als drei Jahrzehnten nach Deutschland immigriert. Obwohl ich weiß, wie solch ein heftiger Bruch in der Familienbiografie von Generation zu Generation weiter auf die Menschen wirkt, habe ich mich nie für diejenigen interessiert, die ein paar Hundert Kilometer weiter östlich eine ähnlich einschneidende Zäsur erlebt haben: ein Staat, ein sozialer Raum, mitsamt seinen Regeln, seinen Vorstellung von Individuum, Familie und Gemeinschaft, seinen Körperbildern, seinem Denk- und Wertesystem, existiert einfach nicht mehr. Warum ging es mich nie etwas an?

Weil auch ich Westdeutsche bin. Und ich habe eine westdeutsche Sicht auf diese Gesellschaft angelernt bekommen und als Standard angelegt. Die meisten Westdeutschen haben, abgesehen von den üblichen privaten, keine großen Brüche in ihrer Biografie – zumindest seit dem Zweiten Weltkrieg. Das ist ein großes Privileg und Privilegien machen faul. Sie zu durchbrechen erfordert viel Arbeit und das Verlassen einer Komfortzone.

Die Teilung Deutschlands hat auch meinen Lebensweg bestimmt. Als türkeistämmige Einwander*innen zog meine Familie nach Westdeutschland, und das aus einem bestimmten Grund: In der DDR gab es hauptsächlich Migrant*innen aus sogenannten sozialistischen Brüderstaaten, sprich aus Ländern wie Kuba, Mosambik oder Vietnam. Die meisten wurden als sogenannte Vertragsarbeiter*innen vom Staat als Arbeitskräfte angeworben.

Ostdeutschland? Nerviger Tintenfleck auf dem Lernplan

Geboren nach der Wiedervereinigung und aufgewachsen in Köln war das Thema DDR für meine Lehrer*innen, Mitschüler*innen und mich nicht mehr als ein unrelevanter, nerviger Tintenfleck auf dem Lernplan. Abhaken, wieder an Karnevaldenken. Ostdeutsche Freund*innen hatte ich keine und ich könnte an einer Hand abzählen, wie viele meiner Freund*innen schon mal in Ostdeutschland waren. Lange zählte ich auch dazu.

Natürlich war ich mal vor einigen Jahren im Berliner DDR-Museum und habe mir den ganzen Kitsch an FDJ-Uniformen, Blümchentapeten und FKK-Bildernangeschaut. Ich habe auch einen Test gemacht, um herauszufinden, zu wie viel Prozent ich den idealen, sozialistischen Menschen nach DDR-Vorstellungen verkörpern würde.

„Manche denken ja, dass auf dem Thema DDR eine dicke Staubschicht liegt“

Das begann sich vor einem halben Jahr zu ändern. Die Studiengangsleitung meines Journalismusmasters in Berlin beschloss, dass meine Kommiliton*innen und ich uns ein Semester lang mit dem Thema Ostberlin vor dem Mauerfall beschäftigen sollten. Wir bekamen den Auftrag, ein Journal zu produzieren, das Besucher*innen einer Ausstellung im Stadtmuseum zu eben jenem Thema einen tieferen Einblick gewähren sollte.

„Manche denken ja, dass auf dem Thema DDR eine dicke Staubschicht liegt“, sagte ich, als wir nach unserer Meinung gefragt wurden. „Im Schulunterricht bekam man zumindest bei uns im Westen den Eindruck, dass die Sache auserzählt ist.“ Ich hielt die Formulierungen so allgemein wie möglich, um zu verbergen, dass ich eigentlich von mir sprach: von meiner Abneigung und meinem Desinteresse mich mit einer Kultur zu beschäftigen, die vermeintlich aus lauter Weißen, schlecht frisierten Menschen in Trabbis besteht.

Liedermacher*innen, Gentrifizierung, kreative Kleidungsschnitte und Datschen

Doch es war beschlossen. In unserer kleinen Redaktion waren wir zu sechst und fünf von uns waren Westkinder, die nun also anderen Menschen Ostberlin erklären sollten. Der sechste war unser Kommilitone Simon, der im Berliner Ostbezirk Lichtenberg aufgewachsen war. Zur Zeit des Mauerfalls war er sechs Jahre alt. In den nächsten Wochen beobachteten wir Wessis fasziniert, wie Simon und unsere Professorin Annett, die sich als Schriftstellerin bereits unzählige Male auf ostdeutsche Spurensuche begeben hatte, über Liedermacher*innen, die Gentrifizierung Ostberliner Bezirke nach dem Mauerfall, kreative Kleidungsschnitte aufgrund von Textilienknappheit und „Datschen“, ein aus dem Russischen stammendes Wort, das in Ostdeutschland immer noch als Bezeichnung für „Gartenlaube“ dient, plauderten.

Obwohl sie zwei Generationen trennte und Simon immer wieder betonte, im Gegensatz zu Annett, die in Magdeburg aufgewachsen war, gelte er als Ostberliner gar nicht als richtiger Ossi, schöpften sie unübersehbar aus einem gemeinsamen Erfahrungsschatz. Was hatte sich verändert in den letzten drei Jahrzehnten? Und was nicht?

 „Der Enthusiasmus, mit dem meist über die Wiedervereinigung geredet wird, macht mich oft traurig.“ – Simon

Annett machte uns auf die ganz alltäglichen Überbleibsel der Vergangenheit aufmerksam, jenseits von Touri-Hotspots wie Stasi-Zentrale und Mauerreste. Sie erkannte die DDR in Gartenzäunen und Straßenführungen. Es gebe Menschen, erzählte sie, die immer noch Umwege laufen, um von einem Ostberliner Kiez zum nächsten zu kommen, weil sie mit dem Gedanken fremdeln, einen Westkiez zu durchqueren. Sie schärfte unseren Blick für die andere Lichtstimmung in den Ostbezirken und -städten, da hier oft noch Straßenlaternen aus der DDR stünden.

„Der Enthusiasmus, mit dem meist über die Wiedervereinigung geredet wird, macht mich oft traurig“, sagte mir Simon eines Tages. Er erzählte, wie schlecht es vielen Menschen aus seinem Verwandten- und Bekanntenkreis in den Wendejahren ging. Die Privatisierung ehemaliger DDR-Betriebe kostete vielen Menschen den Arbeitsplatz. Der Wirtschaftssoziologe Paul Windolf schätzt, dass im Zeitraum von 1990 bis 1995 circa 80 Prozent der Erwerbstätigen ihren Arbeitsplatz verloren. Manche aus seinem Umfeld hätten sich in der Selbstständigkeit versucht, so Simon. Doch viele seien gescheitert. Geschichten, die alle seine Ostberliner Freund*innen kennen.

„Auch Ossis mussten sich jahrelang im Fernsehen von besorgten Bürgern beleidigen und beschimpfen lassen.“ – Ferda Ataman

In einer viel diskutierten Kolumne stellte die Journalistin Ferda Ataman im Mai diesen Jahres die Frage, ob Ossis auch Migrant*innen seien. „Migranten haben ihr Land verlassen, Ostdeutsche wurden von ihrem Land verlassen„, zitiert sie darin die Migrationsforscherin Naika Foroutan. Und beide Gruppen würden von einer westdeutschen Mehrheitsgesellschaft als Bürger*innen zweiter Klasse behandelt. Ostdeutsche und Migrant*innen arbeiten etwa mehr und verdienen weniger.

Ataman schreibt: „Auch Ossis mussten sich jahrelang im Fernsehen von besorgten Bürgern beleidigen und beschimpfen lassen. Da standen sie den Flüchtlingen von heute in nichts nach. Aber dieser Teil der Geschichte wird beim Rückblick auf die Wiedervereinigung gern ausgeblendet.“

Die berechtigte Kritik an der Kolumne war, dass Ostdeutsche im Gegensatz zu Schwarzen und Menschen of Color nicht von Rassist*innen gejagt werden. Sie werden nicht bereits aufgrund ihres Aussehens als fremd wahrgenommen. Schwarze und Menschen of Color müssen überall in Deutschland bei einer Wohnungsbesichtigung oder bei einem Vorstellungsgespräch Angst haben, dass ihr Haar zu kraus oder zu dunkel ist. Dennoch steckt in Atamans These viel Wahres.

Ich bin mir unsicher, wie ich über Ostdeutsche sprechen soll

Selbst als jemand, die viel Wert auf die richtige Ansprache von Personen legt, bin ich mir zum Beispiel nicht sicher, wie ich eigentlich über die sogenannten Ossis sprechen sollte: Ist „Ossis“ eigentlich abfällig? Oder dürfen sich nur „Ossis“ selbst so bezeichnen? Und „Ostdeutsche“ und „Ostdeutschland“? Ist das bayerische Passau nicht auch geografisch betrachtet im Osten von Deutschland? Muss ich dann sagen: „Ostdeutschland im politischen Sinne?“ Abgekürzt als: „OipS“? Vielleicht einfach: „Menschen mit DDR-Hintergrund?“

Schon die Bezeichnung des Ostteils von Berlin ist eine hochbrisante, politische Angelegenheit, habe ich im letzten Semester von meiner Professorin Annett gelernt: „Ost-Berlin“ ist etwa die westdeutsche Schreibform. Der Duden schlägt hingegen „Ostberlin“ vor, was auch in der DDR gängig war. Je nachdem, welche Diktion man bevorzugt, signalisiert man seinem Gegenüber, aus welchem Blickwinkel man auf die Sache schauen will. Meine Kommiliton*innen und ich haben uns damals für einen Perspektivenwechsel entschieden und für das Journal die letzte Variante gewählt: „Ostberlin“. Was man vielleicht aber lassen sollte, ist „Berlin (Ost)“ oder „Berlin, Hauptstadt der DDR“. Das ist eher SED-Style, wurde uns gesagt.

Mediale Diskurs kratzt an der Oberfläche

Gelernt habe ich auch: Der mediale Diskurs um Ostdeutschland (OipS) kratzt in Deutschland seit Jahrzehnten an der Oberfläche. Wir Journalist*innen arbeiten uns in Dauerschleife an dem Bild der verkorksten Ossis ab, sodass wir nicht im Ansatz so weit sind, die Vielfalt an Lebensrealitäten sichtbar zu machen, die es dort gab und gibt. Was wissen wir etwa darüber, wie es sich als queerer Mensch in der DDR lebte? Bei dem Thema Rechte für Homosexuelle war die DDR zwar fortschrittlicher als die BRD − so wurde der Paragraf 175, der sexuelle Handlungen zwischen Schwulen unter Strafe stellte, bereits 1968 abgeschafft, während er in der BRD noch bis 1994 in Kraft war −, dennoch wurde ihnen eine breite Öffentlichkeit verwehrt.

Und während ich mich seit Jahren mit dem Thema Migration beschäftige, war mir bis vor einem halben Jahr nie in den Sinn gekommen, mich der Geschichte der ostdeutschen Vertragsarbeiter*innen zu nähern. Die meisten Verträge waren nach der Wende ungültig, fast alle von ihnen standen ohne Arbeit auf der Straße. Fast zwei Drittel von ihnen kamen aus Vietnam und versuchten sich lange Zeit mit Zigarettenhandel auf dem Schwarzmarkt über Wasser zu halten. Auf der anderen Seite gab es auch etliche Studierende aus dem Ausland in der DDR, denen der Staat ein Stipendium gewährte. Sie sind heute Ärzt*innen, Wissenschaftler*innen, Künstler*innen. Zwei von Tausenden Geschichten, die Platz auf diesem Mosaik, das wir als „Ostdeutschland“ ausgemacht haben, nehmen sollten.

BMX-Bande statt Ronja Räubertochter

Ich erinnere mich, wie mein westdeutscher Freund im Brandenburgischen Forst (Lausitz), wo wir unseren Sommerurlaub verbrachten, im Supermarkt vor dem Zeitschriftenregal stand und mir empört zurief: „Hier gibt es gar nicht die Frankfurter Rundschau!“ Ich warf ihm vom anderen Ende des Flurs ein gehässiges Lachen zu, um zu überspielen, dass mir das auch hätte passieren können. Auch ich hätte mich fragen können, warum eine urwestdeutsche Zeitung in Brandenburg nicht über die Ladentheke geht.

Westdeutsche Zeitungen und Fernsehanstalten geben in Deutschland den Ton an. Ostdeutsche Redakteur*innen, zumal in Führungsetagen, sind stark unterrepräsentiert. Wessis erzählen westdeutsche Geschichten, oder Ostgeschichten aus Wessi-Sicht. Erst kürzlich habe ich online einen Artikel der größten Lokalzeitung meiner Heimatstadt entdeckt, der in der Überschrift „Geschichten vom Leben in der DDR“ versprach. Überrascht und gespannt öffnete ich den Text. Es ging um die Stasi.

29 Jahre Wiedervereinigung, und so vieles bleibt für mich unentdeckt. In meiner Vorstellung waren etwa immer Disney-Filme oder Ronja Räubertochter die cineastischen Highlights eines jeden deutschen Kinderlebens meiner und der vorhergehenden Generation. Simon, mein Ostberliner Kommilitone, erzählte mir neulich jedoch, dass seine Freund*innen und er sich noch gut an die BMX-Bandeerinnern können. Ich habe das gegoogelt, die sehen ziemlich abgefahren aus. Danach habe ich im Internet den Test „Wie viel Ossi steckt in dir?“ gemacht. Das Ergebnis: Ich bin zu 60 Prozent Wessi und zu 40 Prozent Ossi. Da geht noch was.

Der Originaltext von Seyda Kurt ist bei unserem Kooperationspartner ze.tt erschienen. Hier könnt ihr ze.tt auf Facebook folgen.

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