Foto: Andi Weiland

Sara Redolfi: „Wir verstehen uns als Dienstleister, damit alle Bürger Politik machen können”

Die neugegründete Partei „Demokratie in Bewegung” sorgt gerade für Begeisterung, aber auch für viel Kritik. Wir haben mit der Berliner Spitzenkandidatin Sara Redolfi über die Partei gesprochen.

 

Zeit für neue Parteien? 

Im Vorlauf zur diesjährigen Bundestagswahl haben sich viele neue Initiativen und Kleinstparteien gegründet. Eine davon ist die „Demokratie in Bewegung” (DIB), deren Gründer sich für mehr Demokratie und Transparenz einsetzen. Sie wollen dem Lobbyismus den Kampf ansagen und allen Bürgern eine Plattform bieten, auf der jeder Einzelne aktiv Politik mitgestalten kann. Alle Spitzenkandidatinnen sind Frauen und DIB hat sich eine 25-prozentige Vielfaltquote auferlegt. Dieses Programm, das basisdemokratisch unter den 250 Mitgliedern beschlossen wurde, bescherte der Partei in den letzten Wochen einige Aufmerksamkeit. So zum Beispiel als der Wahl-O-Mat online ging, bei dem scheinbar viele (zumindest unter denjenigen, die ihre Ergebnisse offen über soziale Netzwerke teilten) die höchste Übereinstimmung mit der DIB hatten.

Es regen sich aber auch immer mehr kritische Stimmen: die Partei, die sich erst im April 2017 gegründet hat, nehme etablierten linken Parteien die Stimmen weg, eine Stimme für DIB sei im Endeffekt eine verschenkte Stimme, viel Utopie, wenig konkrete Maßnahmen, mehr Schein als Sein.

Sara Redolfi ist Spitzenkandidatin der DIB in Berlin. Wir haben mit ihr über die Ziele ihrer Partei, basisdemokratische Prozesse und die Entscheidung, eine neue Partei zu gründen, anstatt in eine etablierte einzutreten und diese von innen zu verändern, gesprochen.

Ihr habt euch im April diesen Jahres gegründet, um eine Alternative zu den derzeitigen Parteien zu bieten. Was fehlt, deiner Meinung nach, in der aktuellen Parteienlandschaft?

„Mir persönlich haben zwei Dinge gefehlt: eine Politik, die auf Werten basiert, die nicht auf Grund von Umfragewerten und für mehr Stimmen ihre eigenen Prinzipien verrät. Mir fehlt eine Partei, bei der ich sicher weiß, dass sie für ihre, und damit auch meine Werte, einsteht. Darüber hinaus habe ich das Gefühl, dass Parteien und Bürger sich immer weiter voneinander entfernen. Dass die Bürger das Gefühl haben, die ,da oben‘ würden sie sowieso nicht verstehen und ihre Interessen würden hinter denen der Lobbyisten angestellt werden. Für die Politiker sind die Bürger dann die, die auf der Straße stehen und laut schreien. Daraus entsteht eine Distanz, die nicht gewollt sein kann. Wenn Bürger nicht das Gefühl haben, dass sie sich einbringen können, dann schlägt es irgendwann in Populismus um. Und das ist brandgefährlich.

Bei DIB hat mich deshalb total mitgerissen, dass jeder Bürger abstimmen und sogar selbst Initiativen, Programmvorschläge, einbringen kann. Jeder einzelne kann aktiv werden. Das finde ich total großartig.”

Ihr habt euch erst im April 2017 gegründet, nur wenige Monate später steht ein basisdemokratisch entschiedenes Wahlprogramm. Das ging ja ziemlich schnell. Wie war das in so kurzer Zeit möglich?

Da steckt aber natürlich viel Arbeit hinter. Zum einen von der technischen Seite, da sind wir mit unserem virtuellen ,Markplatz’, auf dem diskutiert werden und einer Abstimmungsplattform, auf der verbindlich für und gegen Initiativen gestimmt werden kann, viel besser aufgestellt als es die Piraten jemals waren. Wir können sicherstellen, dass jeder Nutzer wirklich nur einmal abstimmt, dass sowohl Mitglieder als auch Nicht-Mitglieder von DIB sich registrieren können und damit jede Stimme gleich viel zählt. Wir sind auf dieses Wahlprogramm tatsächlich irre stolz, denn es barg natürlich ein enormes Risiko. Die Kritik, die es auch bei Volksentscheiden gibt – da schaut jeder Bürger nur auf sich und berücksichtigt nicht das große Ganze – kam auch bei einem basisdemokratisch beschlossenen Wahlprogramm auf. Die Gefahr war zum Beispiel, dass es am Ende 20 Initiativen zum Tierschutz, aber keine einzige zu sozialer Gerechtigkeit geben würde. Aber wir glauben, dass es uns gelungen ist, ein sehr breit aufgestelltes Programm zu entwickeln: von der Einkommenssteuer bis zur Auswirkung von Intraschall auf die Bevölkerung.”

Wie viele Nicht-Mitglieder haben abgestimmt?

„Abgestimmt haben circa 550 Personen, unsere Partei hat etwa 250 Mitglieder. Es haben also auch einige Nicht-Mitglieder abgestimmt. Diskutiert hatten auf dem Marktplatz zu dem Zeitpunkt 1.200 Personen.”

Was sind eure wichtigsten Themen?

Transparenz und Lobbyismus, aber das wirklich große Thema ist Mitbestimmung, dass ,normale’ Menschen Politik gestalten können. Der andere Schwerpunkt ist soziale Gerechtigkeit. Da möchten sich die meisten unserer Mitglieder einbringen, weil sie das Gefühl haben, dass die immer weiter abnehmen wird, wenn sie nicht selbst aktiv werden. Unsere beiden wichtigsten Themen sind also soziale Gerechtigkeit und Mitbestimmung – und das eine bedingt, denke ich, das andere.”

„Durch Mehrbelastung von Spitzenverdienern können wir eine Mindestsicherung für jeden in Deutschland, auch die Kinder, schaffen – und ja, das ist finanzierbar.”

Euer Wahlprogramm enthält viele wichtige, aber auch vermeintlich utopische Forderungen. Bei Themen wie der Energiewende und Digitalisierung fehlt es vielen an konkreten Ideen, die über Allgemeinplätze hinausgehen. Zur Finanzierung eurer Ideen findet man eher wenig. Wie wollt ihr zum Beispiel mehr soziale Gerechtigkeit finanzieren?

„Oh, wir haben schon für viele unserer Forderungen konkrete Finanzierungspläne. Unsere Einkommenssteuerreform zum Beispiel steht wirklich auf festen Füßen: Durch Verlagerung der Einkommenssteuersätze, durch Anpassung und durch Anhebung des Grenzsteuersatzes, können wir mittlere und niedrige Einkommen entlasten. Gleichzeitig können wir durch die Mehrbelastung von Spitzenverdienern eine Mindestsicherung für jeden in Deutschland, auch die Kinder, schaffen – und das ist finanzierbar. Die Mindestsicherung oder Grundsicherung entlastet dann insbesondere Familien und ermöglicht Eltern zum Beispiel, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Die sehen wir übrigens als Vorstufe zum bedingungslosen Grundeinkommen.”

Euer Wahlprogramm bezieht auch klar Stellung zu vielen Themen, die sonst in der politischen Landschaft sehr kontrovers diskutiert werden – Stichwort Sterbehilfe. Hattet ihr manchmal Schwierigkeiten einen Konsens zu finden? Wenn ja, wie seid ihr damit umgegangen?

„Das ist eine sehr vielfältige Frage. Also zum einen haben wir auf dem virtuellen  ,Marktplatz’, da wo die Ideen diskutiert werden, immer mal wieder Probleme mit Neu-Diskutanten, die sich nicht an unsere Netiquette halten. Aber für solche Fälle haben wir ein Moderatorenteam, das dann eingreift. Außerdem haben wir eine ,Flagge‘ eingebaut, die man klicken kann, wenn man einen Beitrag melden möchte. Wenn fünf Personen diese Flagge klicken, wird der Beitrag erst einmal automatisch verborgen. Unsere Moderatoren sind in solchen Fällen aber wirklich sehr engagiert, denn eine gut funktionierende Kommunikation ist nun mal die Basis für unser Konzept. Auf der Abstimmungsplattform gibt es auch noch einmal eine zweiwöchige Phase, in der über die eingereichten Initiativen diskutiert werden kann, bevor diese zur Abstimmung kommen. Und wenn jemand gegen eine Initiative ist, kann er auch noch eine Varianten-Initiative zum gleichen Thema einbringen. Dann heißt es: entweder, oder. Das Thema Sterbehilfe ist tatsächlich eines, das mit besonders großer Mehrheit beschlossen wurde. Deshalb wollten wir es, auch wenn es ein kontroverses Thema ist, unbedingt auch in der Kurzfassung unseres Programmes haben.”

Ihr seid gegen Parteispenden von Unternehmen. Wie wollt ihr euch finanzieren bzw. wie finanziert ihr euch momentan?

„Wir wollen uns über Crowdfunding, also viele Kleinspenden, finanzieren. Das funktioniert bisher schon ganz gut. Natürlich auch, weil wir längst nicht solche Ansprüche haben wie die etablierten Parteien. Unser Budget ist deutlich kleiner. Über das Crowdfunding haben wir aber auf jeden Fall mehr eingenommen, als wir kalkuliert hatten.”

Ihr schreibt euch selbst die Digitalisierung auf die Fahne. Wie sieht eure Social-Media-Strategie aus? Glaubt ihr, ihr seid dort im Vorteil gegenüber den etablierten Parteien?

„Also einen Wettbewerbsvorteil haben wir auf jeden Fall nicht. Bei uns läuft ja auch die Social-Media-Bespielung ehrenamtlich, in der Mittagspause oder in einer Nachtschicht.”

Fehlen euch bekannte Gesichter an der Spitze?

„Ja, um ein Zugpferd zu haben, auf jeden Fall. Ich denke, Richard David Precht wäre etwa perfekt für uns – und wir für ihn. Vielleicht überlegt er sich das ja noch mal (lacht). So ein Zugpferd würde uns sicherlich guttun. Auf der anderen Seite wollen wir eben keine Partei sein, bei der es auf eine Person an der Spitze ankommt. In unserem Ethikkodex ist zum Beispiel auch festgelegt, dass jede Person ein Amt nur zweimal besetzen darf. Danach ist Zeit für frischen Wind. Wir wollen verhindern, dass Machtstrukturen sich verfestigen und es irgendwann hauptsächlich um das eigene Ego geht und nicht um das, was die Basis möchte.”

Warum nennt ihr euch Bewegung und nicht Partei?

„Uns hat das Wort Bewegung gefallen, weil es genau das ist, was wir machen wollen: Wir wollen unser politisches System bewegen und in die Jetzt-Zeit katapultieren. Es gibt so viele Möglichkeiten, mit den Bürgern zu kommunizieren. Die werden aber einfach nicht genutzt. Wir sind aber trotzdem eine Partei, nicht nur eine Bewegung. Es ist ja so, dass es Misstrauen gegenüber Parteien gibt. Das ist auch ein Grund, warum wir uns gegründet haben. Dieses Misstrauen zu ignorieren und nichts am System zu ändern, ist gefährlich. Wir wollen diesem Misstrauen mit einer vertrauenswürdigen Alternative entgegentreten.”

„Das ist wie mit der Frauenquote: Manchmal muss man sich feste Ziele setzen, um tatsächlich etwas zu erreichen.”

Noch etwas, was ihr euch auf die Fahnen schreibt: Vielfalt. Wie sieht euer konkretes Konzept aus, damit diese Vielfalt auch gelingt?

„Wir haben eine 25-prozentige Vielfaltsquote. Auf die sind wir sehr stolz, auch weil uns immer wieder davon abgeraten wurde. Das Argument: Mit so einer Quote werdet ihr vielleicht vom Bundeswahlleiter nicht zugelassen. Das ist auch oft das Argument der anderen Parteien, warum sie so eine Quote nicht haben. Wir haben aber gesagt: ,Nee, das ist wichtig.’ Das Parlament muss die Bevölkerung so repräsentieren, wie sie tatsächlich zusammengesetzt ist. Gute, zukunftsorientierte Politik kann es nur geben, wenn nicht eine kleine homogene Gruppe im Parlament sitzt und entscheidet. Deshalb haben wir uns ganz bewusst für eine Vielfaltsquote entschieden – und es hat geklappt, wir sind zugelassen worden. Das ist wie mit der Frauenquote: Manchmal muss man sich feste Ziele setzen, um tatsächlich etwas zu erreichen. Die Quote ,zwingt‘ uns dazu, uns zu überlegen, wie wir auf die Bevölkerungsgruppen, die gerade nicht im Parlament vertreten sind, zugehen.”

Wie reagierst du auf den Vorwurf, dass DIB ein elitäres Projekt sei?

„Ich verstehe, um ehrlich zu sein, gar nicht, woher dieser Vorwurf kommt. Vielleicht sind es viele gutausgebildete, privilegierte Menschen, die DIB entwickelt haben, aber letztendlich haben wir das ja nicht für uns gemacht, sondern gerade für all die Menschen, die momentan keinen Zugang zur Politik haben. Deshalb haben wir uns ganz bewusst dazu entschieden – das ist einer unserer Grundpfeiler – dass jeder, egal ob Parteimitglied oder nicht, bei uns mit abstimmen kann. Wir verstehen uns viel mehr als Dienstleister, damit wir, aber auch andere Politik machen können.

Die Umfragen deuten ja darauf hin, dass sich nach der Wahl in der Regierung nicht viel verändern wird, von Wechselstimmung ist eigentlich wenig zu spüren. Seht ihr ein wirkliches Interesse an einem Wandel in der Parteienlandschaft?

„Ja, auf jeden Fall. Alleine die Tatsache, dass sich so viele Kleinstparteien und Initiativen im Vorfeld dieser Wahl gegründet haben, spricht doch schon dafür. Gerade jüngere, aber auch viele ältere Menschen wünschen sich, überhaupt mal wieder eine Wahl zu haben. Wenn zum Beispiel die CDU im Wahlkampf bestimmte Dinge verspricht, fragen sich doch viele, warum sie diese nicht schon in den letzten zwölf Jahren umgesetzt haben.” 

Wie wichtig war der Wahl-O-Mat für euch?

Als der Wahl-O-Mat rauskam haben wir auf jeden Fall noch einmal eine große Resonanzwelle gespürt. Gleichzeitig sehen wir den Wahl-O-Mat aber auch kritisch. Ich verstehe nicht, warum man nicht von vornherein einfach die acht Parteien angezeigt bekommt, mit denen man am meisten übereinstimmt, ohne eine Vorauswahl treffen zu müssen. Man muss DIB ja erst einmal überhaupt unter die acht Parteien wählen, mit denen man sein Abstimmungsverhalten vergleichen möchte, damit man sie an oberster Stelle haben kann. Dieser Auswahlmechanismus schafft einen Vorteil für die großen Parteien. Und das obwohl der Wahl-O-Mat mit öffentlichen Geldern finanziert wird und deshalb neutral sein müsste. Das ist undemokratisch.”

Wärt ihr überhaupt bereit, in den Bundestag einzuziehen?

„Na klar.”

Was würde das für eure Kandidaten bedeuten?

„Sie würden ihre jetzigen Jobs aufgeben und vollzeit in der Politik arbeiten.”

Wenn man mit Frauen in der Politik über Maßnahmen ihrer Parteien spricht, die sie selbst eigentlich gar nicht unterstützen, betonen sie oft, wie wichtig es ist, Kompromisse zu machen – weil man nur dann etwas ändern könnte. Ihr sagt, bei euch sei das anders. Stehst du also zu 100 Prozent hinter DIB?

„Ja, absolut. Ich werde manchmal gefragt, warum ich mich nicht einfach einer anderen Partei angeschlossen habe und versuche diese zu ändern. Aber dafür muss man so viel Motivation, Leidenschaft und Engagement aufbringen, und ich bin schlicht nicht bereit, das in eine Partei zu stecken, hinter der ich nicht zu 100 Prozent stehe. Ich könnte nie hinter einer Partei stehen, die Frauen benachteiligt, in ihrer Struktur, in ihren Forderungen, in ihrer Politik. Wir wollen keine Kompromisse machen, wenn es um unsere Werte und um unseren Anspruch geht, wie wir Politik machen wollen. Dass man später vielleicht nicht alles so umsetzen kann, mag sein. Aber schon ohne Ziele einzusteigen, finde ich traurig.

Als ich Mutter geworden bin, habe ich noch mal neu nachgedacht. Mir geht´s gut, aber wie sieht es in 20 bis 30 Jahren aus? Wenn man ein Kind bekommt, entwickelt man, zumindest ging es mir so, einen emotionalen Zugang zu allen Kindern. Es sagt sich so leicht: Kein Kind darf zurückbleiben. Aber letztendlich bleiben so viele Kinder in Deutschland eben doch zurück. Das kann doch nicht sein.”

Warum ist eine Stimme für euch deiner Meinung nach keine verschenkte Stimme?

„Aus vielerlei Gründen. Es geht nicht darum, dass man die Siegerpartei gewählt hat, damit die eigene Stimme etwas bewirkt. Die eigene Stimme bewirkt etwas, wenn man sie der Partei gibt, die für die eigenen Werte steht. Und wenn das DIB ist, ist das eben DIB. Nach der Wahl sind die Abgeordneten, auch wenn man sie nicht gewählt hat, ja trotzdem Repräsentanten für jeden Bürger. Gleichzeitig gibt uns jede Stimme Rückenwind für die nächsten Landtagswahlen oder fürs Europaparlament. Das ist super wichtig für uns. Finanziell, aber auch als Zeichen, als Stärkung. Wir haben schon öfter den Vorwurf gehört, wir würden ja nur den Grünen und den Linken wichtige Stimmen wegnehmen. Aber das wäre ja wie ein Wirtschaftszweig, der subventioniert wird, obwohl er nicht mehr richtig läuft. Am Ende nutzt das niemanden. Man sollte seine Stimme doch der Partei geben, die die eigenen Werte vertritt und nicht Parteien wählen, die einen dann nur enttäuschen.”

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