Düzen Tekkal ist Journalistin, Moderatorin, Filmemacherin und Kriegsberichterstatterin. Im März 2020 ist ihr neues Buch „#German Dream“ erschienen. Ein Interview.
Düzen Tekkal wurde als Tochter jesidisch-kurdischer Geflüchteter in Hannover geboren. Seit Jahren arbeitet sie erfolgreich als freie Journalistin und Moderatorin, unter anderem für RTL und „Die Welt“. Außerdem ist sie Filmemacherin und Kriegsberichterstatterin. In ihrem 2015 erschienenen Film „Hawar – Meine Reise in den Genozid der Jesiden“ dokumentierte sie den Genozid an Jesid*innen im Nordirak durch Anhänger*innen des Islamischen Staats. Im selben Jahr gründete sie den gemeinnützigen Verein für humanitäre Hilfe HAWAR.help, mit dem sie für Gerechtigkeit für verfolgte Frauen weltweit kämpft.
Jetzt hat Düzen Tekkal ein neues Buch geschrieben. In „#GermanDream“ zeigt die Journalistin auf, welche Fehler Deutschland in den letzten Jahrzehnten bei der Einwanderungs- und Bildungspolitik gemacht hat und stellt ihr Konzept für eine gemeinsame, erfolgreiche deutsche Zukunft vor, in der alle, mit oder ohne Zuwanderungsgeschichte, sich verwirklichen können.
Im Gespräch erzählt die Journalistin, warum sie sich in Deutschland mehr Dankbarkeit wünscht, welche Schlüsse wir nach Hanau ziehen müssen und wie sie mit ihrer Initiative German Dream für mehr „Sichtbarkeit für die vielen erfolgreichen deutschen Geschichten unterschiedlicher Wurzeln“ schaffen möchte.
„Wir müssen die gläserne Decke gemeinsam durchbrechen“
Du bist sehr lange als Kriegsberichterstatterin unterwegs gewesen und erzählst in #German Dream auch von deinem Weg zur Menschenrechtsaktivistin. Wie hat dich deine Arbeit geprägt?
„Ich habe mir nicht ausgesucht, Kriegsberichterstatterin zu werden. Durch den Völkermord an meiner Religionsgemeinschaft bin ich zur unfreiwilligen Chronistin geworden. Daher weiß ich ganz genau, was passieren kann, wenn der Weg der Zivilisation verlassen wird und dieser in Kriegen, Völkermord und Entmenschlichung endet. Das hat meine Arbeit nachdrücklich geprägt. Die Projekte, die ich danach ins Leben gerufen habe, basieren auf der Asche des Völkermords. Auch die Gründung von ,GermanDream‘ basiert dahingehend auf einem Trauma, dass wir nie wieder ,German Angst‘ zulassen dürfen. Also ein Deutschland der Angst, der Spaltung, der Entmenschlichung und der Grenzen. Insofern hat das mein ganzes Wirken geprägt. Meine Organisation ,Hawar‘ ist meine internationale Antwort auf Entmenschlichung, Kriege und Völkermorde. Der ,GermanDream‘ ist meine Liebeserklärung an Deutschland. Es geht darum zu zeigen, dass wir ein Land der Chancen und der Hoffnung sind und nicht den Falschen das Zepter überlassen dürfen.“
In „#GermanDream“ sprichst du von einer Dankbarkeit, die du gegenüber Deutschland empfindest, weil du hier Freiheit und Sicherheit verspürst. Ist diese Dankbarkeit etwas, das alle Menschen, die in Deutschland leben, teilen sollten? Mit oder ohne Migrationsgeschichte?
„Mit der Dankbarkeit ist das so eine Sache. Dankbarkeit lässt sich nicht verordnen oder erzwingen, sondern kommt aus der Tiefe eines Gefühls. Zumindest bei mir ist das so. Es war für mich eine Herzensangelegenheit, dem Land etwas zurückzugeben, das mir so viele Chancen gegeben hat. Meine Demut und Dankbarkeit haben damit zu tun, dass ich durch meine Arbeit und meine Wurzeln sehe, dass diese Demokratie, das Grundgesetz, die Freiheit, die Selbstbestimmung und Gleichberechtigung keine Selbstverständlichkeit sind. In gewisser Weise kann das sogar eine Glücksformel sein.“
Inwiefern?
„Ich habe Barack Obama auf der ,Bits & Pretzels‘-Konferenz erlebt. Dort wurde er gefragt, wie er mit der Diskriminierung und dem Rassismus umgeht, die er erlebt. Er antwortete: ,Mein Name ist Barack Hussein Obama. Ich habe es mit diesem Namen ins Weiße Haus geschafft. Damit habe ich einen Meilenstein erreicht, auf den ich erst einmal stolz sein kann.’ Er wollte damit zum Ausdruck bringen, dass mit Demut und Dankbarkeit auch Glück einhergeht. Es geht darum, dass uns bewusst wird, dass unser Leben keine Selbstverständlichkeit ist.
Dankbarkeit ist nichts, das nur Migrant*innen verordnet werden sollte. Nach dem Motto: Sei froh, dass du hier geboren bist. Sie gilt für uns alle und damit selbstverständlich auch für autochthone Deutsche. Gleichzeitig ist Dankbarkeit aber auch subjektiv. Sie ist nichts Kollektives. Jede*r muss das für sich entscheiden. Nachdem ich mir meinen German Dream erfüllt habe, möchte ich ihn für alle anderen möglich und teilbar machen. Auch das ist eine Form von Dankbarkeit. Dabei spiele ich nicht die Rolle der Bittstellerin, die ohne ihren Rechtsstaat nichts wäre. Es geht um Dankbarkeit auf Augenhöhe und im Austausch. Auch Deutschland kann dankbar sein für die Deutschen mit unterschiedlicher Zuwanderungsgeschichte, die hier leben. Wo auch immer unsere Religionen und Wurzeln liegen.“
Du erwähnst etwas später im Buch, dass dieser Begriff „Bringschuld“ von vielen Menschen mit Migrationsgeschichte abgelehnt wird. Warum ist er dir wichtig?
„Das Wort Bringschuld ist negativ behaftet, weil es etwas Einseitiges hat. Das meine ich damit aber nicht, im Gegenteil. Ich verfolge das kennedysche Prinzip: ,Was kann ich für mein Land tun?’ Als Kind von Geflüchteten und von Einwander*innen ist mir beigebracht worden: Wenn ich etwas möchte, muss ich auch etwas dafür tun. Ich muss die Ärmel hochkrempeln und dann auf einen Rechtsstaat treffen, der mir Möglichkeiten und Perspektiven bedingungslos zur Verfügung stellt. Beides klappt im Moment nicht richtig gut.“
Wie können wir das ändern?
„Wir haben auf beiden Seiten noch eine Menge zu tun und müssen uns annähern. Das ist ein dialektischer Prozess. Es muss ein Austausch stattfinden. Wenn ich auf der einen Seite die Bringschuld als wichtig erachte, muss es auf der anderen Seite eine Willkommenskultur geben. Jedes Kind, ob von Migrant*innen oder autochthonen Deutschen, muss das Gefühl und faktisch auch die Möglichkeit haben, alles zu schaffen, was es will, wenn es die Leistung dafür bringt. Wir müssen die jetzige gläserne Decke gemeinsam durchbrechen.“
Nach dem Anschlag von Hanau kamen viele Diskussionen auf, weil in den Medien oft von deutsch-türkischen Opfern gesprochen wurde, obwohl die meisten Kurd*innen waren. Du bist kurdische Jesidin und damit Teil einer „Minderheit in der Minderheit”, wie du selbst schreibst. Wäre es für dich wichtig, dass in der öffentlichen Debatte stärker differenziert wird?
„Der Umgang mit Hanau hat ganz klar gezeigt, wo unsere Defizite liegen. Auch die Defizite der Regierung, was die Sensibilität und den Umgang mit den Trauernden angeht. Mir ist die Opferkonkurrenz zuwider. Trotzdem hat sie stattgefunden, weil kein adäquater Umgang gewährleistet wurde. Die Angehörigen der Opfer haben zu Recht darauf hingewiesen, dass unter den Toten nicht nur eine Religionsgruppe war, sondern auch Roma und Kurd*innen. Sie wurden zu einem monolithischen Block gemacht. Das macht sie unsichtbar. Dafür kann die Gruppe, der sie zugehörig gemacht wurden, nichts. Es kommt aber zu Anfeindungen von Migrant*innengruppen untereinander. Dem liegt ein strukturelles Problem zugrunde. Wir müssen parallel zum antimuslimischen Rassismus auch andere Rassismen, wie den anti-jesidischen Rassismus, den anti-alevitischen Rassismus und den anti-ziganischen Rassismus sichtbar machen. Beides muss in unserem Rechtsstaat gelingen. Es ist wichtig, dass Akteur*innen regelmäßig von ihrer Form der Unterdrückung und Diskriminierung berichten. Ich wünsche mir ein Deutschland, in dem türkische Sunnit*innen über den Rassismus sprechen dürfen, der ihnen widerfährt. Genauso wie die kurdische Jesid*innen. Das darf man nicht gegeneinander ausspielen, sondern muss nebeneinander Bestand haben.“
Zu deiner Bildungsinitiative #German Dream. Kannst du erzählen, wie die Initiative zustande gekommen ist?
„Die Initiative ist aus einer Sehnsucht und einem Selbstverständnis entstanden. Sie ist meine Antwort auf dumpfen Nationalismus und eine German Angst, die sich in meinem Leben nicht widerspiegelt. Ich habe Deutschland immer als ein Land der Chancen erlebt. Damit bin ich nicht die Einzige. Viele Menschen glauben an den German Dream. Als die #Metwo- Debatte auf Twitter losging, habe ich mich daher intensiv mit #German Dream eingebracht. Es ging nicht darum, die Erfahrungen von Deutschen mit Zuwanderungsgeschichte zu relativieren, denn auch ich habe Rassismus und Diskriminierung erlebt, sondern die Debatte zu erweitern. Der German Dream und ‚Metwo‘ sind zwei Seiten einer Medaille. Jede*r von uns hat auf dem Weg zum German Dream schon mal eine #Metwo- Erfahrung gemacht. Insofern war das nicht einfach nur ein Hashtag, das ist meine Lebensphilosophie.“
Was ist das Ziel?
„Ich war es leid, insbesondere auch in meiner Tätigkeit als Redakteurin bei einem Privatsender, nur über junge männliche Migranten als Intensivstraftäter oder Terroristen zu sprechen. Dieses Bild muss erweitert werden und mehr Sichtbarkeit für die vielen erfolgreichen deutschen Geschichten unterschiedlicher Wurzeln geschaffen werden. Das ist der Versuch von German Dream.“
Du sagst im Buch, dass es dir wichtig war, dass sich die Initiative nicht nur den Themen Integration und Migration widmet. Warum?
„Der Zusammenhalt der Gesellschaft wird von vielen Faktoren herausgefordert. Zuletzt durch Covid-19. Es ist schon seit vielen Jahren bekannt, dass die Globalisierung, die Digitalisierung und die damit einhergehende Überforderung zu neuen Fragen führt: ,Wo gehöre ich hin? Wo finde ich Sicherheiten? Was ist mein neuer, identitätsstiftender Faktor in Zeiten, in denen Gewerkschaften und Volksparteien dafür nur noch bedingt infrage kommen?’ Wir dürfen Räume, in denen Identitäten besprochen werden, nicht den Rechten, den Terrorist*innen, den Kulturelativist*innen oder den religiösen Extremist*innen überlassen. Als Mitte der Gesellschaft müssen wir zeigen, dass das unser Deutschland ist. Wenn wir weiter nur über Integration und Migration sprechen, spalten wir, statt zu verbinden. Deswegen war für mich von Anfang an klar, wenn diese Initiative ins Leben gerufen wird, dann als Bildungsprojekt für alle. Für die autochthonen Deutschen, die alten Deutschen und für die neuen Deutschen mit all den unterschiedlichen Wurzeln, die uns ausmachen.“
Du schreibst in deinem Buch „Ich gebe zu – ich war und bin genervt davon, wie sich manche Migranten kollektiv die Opferrolle zuschreiben.” Kannst du das erläutern?
„Wir dürfen nicht in einem Dreieck von Schuld, Selbstmitleid und emotionaler Erpressung verharren. Wir müssen wegkommen von der Schuldfrage hin in die Rolle des Handelns. Ein Mensch, der zum Opfer geworden ist, begibt sich natürlich nicht in eine Opferrolle, sondern ist ein Opfer. Da sehe ich einen ganz klaren Unterschied. Um marginalisierte Gruppen muss sich gekümmert werden. Wir müssen uns um marginalisierte Gruppen kümmern. Die Menschen, die mehr Hilfe benötigen, müssen von Stärkeren an die Hand genommen werden. Die Frage ist aber, wie machen wir Politik und wie machen wir Teilhabe möglich? Das muss aus einer Stärke heraus, auf Augenhöhe, geschehen. Sobald der Mensch zum Opfer gemacht wird, ist diese Augenhöhe nicht da. Das gilt es vehement zu bekämpfen.“
Lehnst du deshalb auch die Begriffe „Person of Color” und „Identitätspolitik” ab?
„Wir müssen aufpassen, dass wir das Ganze nicht ad absurdum führen, wenn wir Teilhabe fordern, aber uns selber unterscheiden. Das ist für mich das Gegenteil von einem verbindenden gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es hat mich irritiert, dass Jungs, mit denen ich aufgewachsen bin, die früher Murat und Ali hießen, plötzlich People of Color waren. Das ist ein sehr sensibles Thema. Trotzdem möchte ich es nicht ausklammern. In Zeiten, in denen wir den antimuslimischen Rassismus adressieren, dürfen wir den anti- alevitischen, den anti-jesidischen und den anti-ziganischen Rassismus nicht vergessen. Wenn schon, denn schon.“
Kannst du der Identitätspolitik auch etwas Gutes abgewinnen?
„Natürlich. Sie schafft Sichtbarkeit. Wenn ich sehe, dass der Rassismus jedweder Art thematisiert wird, einen Raum bekommt, dann ist das wichtig und richtig. Das kann auch identitätsstiftend sein, wie der Name schon sagt. Wir müssen aber aufpassen, dass wir nicht selbst anfangen zu spalten. Das finde ich am German Dream so schön. Er ist breit vertreten und hat viele unterschiedliche Stimmen dabei. Jede*r bringt seine Themen mit, ob Rassismus, NSU, die Arbeitswelt oder Digitalisierung. Darauf möchte ich nicht mehr verzichten. Das ist das, worauf es ankommt: Was bin ich für ein Mensch? Was sind meine Werte? Und wie kann ich die teilbar machen?“
Auch sagst du „Ich mag das Wort ,Integration‘ in seinem üblichen Gebrauch nicht sehr. Manchmal nenne ich es sogar ,das böse I-Wort‘”. Warum ist der Begriff problematisch?
„Der Begriff Integration ist schwierig, weil er spaltet, in ,wir’ und ,die anderen.’ Damit geht wieder ein zweigliedriges Weltbild einher. Ich begreife uns aber nicht als die anderen. Wir sind ein Teil dieser Gesellschaft. Viele sehen das nicht so und das ist schlimm genug. Das muss sich nicht auch noch im Sprachgebrauch zeigen. Ich kann das Wort Integration nicht mehr hören, weil es so viele Arbeitskreise zu der Thematik gegeben hat und jede*r sein Päckchen mitträgt. Trotzdem passiert noch viel zu wenig. Es geht mir nicht darum, dass wir nicht mehr darüber sprechen. Ich möchte den Begriff erweitern auf Werte und Gemeinsamkeiten.“
Du schreibst auch: „Es ist unser Versäumnis, wenn wir Strukturen einfach immer weiter hinnehmen, die eine Abkehr von unserer Gesellschaft oder gar eine Radikalisierung nicht nur nicht verhindern, sondern sogar eher noch befördern. Es geht um Würde, um Sichtbarkeit und Teilhabe. Man muss die Menschen mitnehmen, wenn man sie nicht verlieren will.” Wo hat Deutschland in den letzten Jahrzehnten konkret Fehler gemacht?
„Wir haben nie definiert, dass wir ein Einwanderungsland sind und dass Menschen mit Zuwanderungsgeschichte als selbstverständlicher Teil Deutschlands dazugehören. Das war der größte Fehler. Wir haben weder eine Einwanderungs-, Migrations- noch Asylpolitik, die Menschen, die auf legalem Wege zu uns kommen wollen, die Möglichkeit gibt, sich für dieses wunderbare Land zu entscheiden. Das ging los mit der Gastarbeiter*innen-Generation, unseren Eltern, denen kaum Teilhabe ermöglicht wurde. Und zeigt sich auch heute beispielsweise an unserer aktuellen Bundesregierung. Es gibt niemanden, der eine sichtbare Migrationsgeschichte hat. Wenn diese DNA da nicht mit hineinfließt, woher soll die Sensibilität für die Probleme marginalisierter Gruppen kommen?“
Düzen Tekkal: GermanDream: Wie wir ein besseres Deutschland schaffen, Berlin Verlag, März 2020, 18 Euro.
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