Foto von Linda Rachel Erni, sie schaut zur Seite und lächelt.
Foto: Max Zerrahn

Magie des Alltags: Warum uns das Kleine wieder näher zusammenbringt

„Kleine Momente in der großen Stadt“, heißt das Debüt von Linda Rachel Sabiers. Die Autorin richtet die Aufmerksamkeit auf das Kleine in der großen Stadt. Die kurzen Geschichten über alltägliche Begegnungen, Gespräche und Beobachtungen sind eine positive Ermahnung, langsamer zu werden und die Mitmenschen wahrzunehmen.

Im Vorwort ihres Buches „Kleine Momente in der großen Stadt“ beschreibt die Autorin Linda Rachel Sabiers, wie sie in einer hektischen Berliner U-Bahn die Ruhe fand, die ihr Leben und auch ihre Perspektive als Autorin veränderte. Zwischen Alltagsszenen und überraschenden Begegnungen erzählt sie von den kleinen menschlichen Augenblicken, die in einer anonymen Metropole Großes bewirken können.

Der Band „Kleine Momente in der großen Stadt“ versammelt Geschichten, die sich leicht übersehen lassen: der Wortwechsel zweier Menschen, die sich nicht kennen. Die respektvolle Auseinandersetzung zwischen Freundinnen. Eine vertraute Geste. Und wir als Leser*innen haben ein Dauerlächeln im Gesicht, weil klar wird, dass sich Menschen dort draußen ständig berühren. Dass sie einander brauchen. Leser*innen schreiben Linda, dass sie durch die Lektüre des Buches ihre Nachbarschaft mit ganz neuen Augen sehen. „Solche Rückmeldungen“, sagt Linda, „berühren mich zutiefst, weil genau das meine Intention war.“

Wir sprachen mit Linda Rachel Sabiers über die Entstehung des Buches, ihre Sicht auf die Welt und ihre Entwicklung als Autorin und Mutter und über das, was wir als Gesellschaft aktuell wohl am meisten brauchen.

Du beschreibst im Vorwort den Ursprung des Buches so: „Mein Fokus verlagerte sich vom Inneren ins Äußere. Von meiner Panik auf ihr Menschsein, das mir in diesem Augenblick Halt in der Anonymität gab“. Was war passiert?

Bild: Rowohlt

„Ja, dieser Moment wird mir immer in Erinnerung bleiben. Das war 2014. Ich saß in der Bahn auf dem Weg ins Büro. Irgendwie hatte sich die ganze Anspannung der Jahre oder der Jahrzehnte davor auf diesen Moment verlagert, und ich hatte meine erste richtige Panikattacke. Es waren die typischen Symptome: Ich bekam keine Luft mehr, hatte das Gefühl, gleich umzukippen, konnte nicht mehr richtig sehen. Ich erinnerte mich, dass ich mal irgendwo gelesen hatte, man solle sich in einem solchen Fall auf die fünf Sinne fokussieren: Was sehe ich gerade? Was rieche ich? Was schmecke ich? Was höre ich? Was fühle ich?

Ich habe das also versucht, und in diesem Moment sehe ich diese Frau. Sie sitzt in der U-Bahn mit einer Tupperschüssel und stochert in ihrem Obstsalat. Und sie wiederholt andauernd diese Begriffe: ,Apfel, Banane, Ananas.…’ Das hatte etwas sehr Meditatives, und es hat mir aus dem Moment der Panik herausgeholfen. Ich habe gelernt, wie viel Halt, ja fast schon Erlösung ich in diesem zwischenmenschlichen Gefüge gefunden habe. Das war der Startschuss für die Reise mit den Mitmenschen, die mich umgeben, aus der schließlich auch das Buch entstanden ist.“

Bist du daraufhin aktiv losgezogen und hast diese Geschichten gesucht? Oder hast du dir einen Filterblick angeeignet?

„Es hat sich durch diesen Moment wirklich eine Art Filterblick entwickelt. Anfangs war er wahrscheinlich noch viel grober, aber mittlerweile ist er so feinporig geworden, dass es fast schon störend ist. Das habe ich auch bei meiner Buchpremiere erzählt. Ich kann eigentlich kaum noch in einem Café, in der Bahn oder an irgendeinem anderen öffentlichen Ort sitzen, ohne dass dieser Blick alles beeinflusst. Manchmal tut mir das leid für meine Gesprächspartner*innen, weil ich immer mit einem Ohr oder Auge in meiner Umgebung bin. Das hat sich mit der Zeit entwickelt – ähnlich wie bei jemandem, der Musik macht und keine Musik mehr hören kann, ohne sich zu fragen: ‚Wer hat das produziert? Wie wurde es gemacht?’ So ist das bei mir auch.

Meine Großmutter nannte mich früher ‚Hans Guck in die Luft‘, weil ich als Kind beim Spazierengehen ewig gebraucht habe – ständig mit Blick in den Wolken. Das ist etwas, das in mir verankert ist: ein innerliches Interesse für meine Umgebung. Aber in den letzten zehn Jahren hat sich das einfach verselbstständigt.“

Was sind deine Instrumente gewesen? Ist zum Beispiel das Notizbuch dein ständiger Begleiter?

„Das wäre romantisch, oder? Aber nein, es war immer das Handy. Weil es einfach viel unmittelbarer ist und man damit weniger auffällt. Wenn man etwas ins Handy tippt, denkt niemand, dass man gerade mitschreibt – man könnte ja auch einfach eine Nachricht verfassen. Mir ist wichtig, dass sich niemand durch mich gestört fühlt. Ich möchte nicht starren, deswegen höre ich meistens eher hin, als dass ich gezielt beobachte. Ich schaue eher an den Leuten vorbei und achte darauf, wie Gespräche verlaufen.“

„Mir passiert es ständig, dass Leute in mich hineinlaufen, weil sie nur auf ihr Display starren. Das zeigt, wie wenig wir uns oft für unsere Mitmenschen interessieren.“

Linda Rachel Sabiers

Beim Lesen deines Buches wurde mir wieder klar, dass wir gerade in einer Großstadt wie Berlin kaum mehr aufeinander achten oder ein echtes Bewusstsein füreinander haben.

„Das stimmt, ich höre auch oft von Leuten diesen Satz: So etwas ist mir noch nie passiert! Dann entgegne ich: ,Vielleicht guckst du nicht richtig hin?’ Wenn man durch Großstädte wie Berlin, New York, Tel Aviv oder Köln läuft, fällt einem auf, wie wenige Menschen wirklich aufmerksam durch die Stadt gehen und wahrnehmen, was um sie herum passiert. Heutzutage kommt es ja sogar zu Verkehrsunfällen, weil Leute auf ihr Handy schauen, während sie die Straße überqueren. Mir passiert es ständig, dass Leute in mich hineinlaufen, weil sie nur auf ihr Display starren. Das zeigt, wie wenig wir uns oft für unsere Mitmenschen interessieren. Ich komme aus einer Familie, in der ich von beiden Seiten mit einem starken Gemeinschaftsgefühl aufgewachsen bin – fast wie ein Teil eines großen Rudels. Dieses Gefühl begleitet mich bis heute.“

Welche Rolle spielen die Cafés für die „Kleinen Momente in der großen Stadt“? Wie wichtig waren diese Orte für deinen kreativen Prozess?

„Cafés sind für mich ein unverzichtbarer Bestandteil meines Lebens und meiner Großstadterfahrung. Es klingt vielleicht etwas seltsam, aber für andere ist das Fitnessstudio unverzichtbar oder der Italiener um die Ecke – und für mich sind es eben Cafés. Ich freue mich, wenn ich in einem Büro arbeite oder in einer Gegend wohne, wo es tolle Cafés gibt. Das ist für mich ein essenzieller Bestandteil meiner mentalen Gesundheit. In den letzten zehn Jahren hat sich viel verändert. Es wird immer schneller und lauter in den Cafés. Viele sind gar nicht mehr darauf ausgerichtet, dass man dort lange sitzt, liest oder schreibt. Es wird schwerer, gute Orte zum Schreiben zu finden. Seit ich im Prenzlauer Berg wohne, vermisse ich die Westberliner Cafékultur. Dort gibt es noch richtige Orte, wo man ungestört und auf unbestimmte Zeit sitzen kann und wo sich die Leute auch wirklich noch miteinander unterhalten.“

Neben den Cafés sind Parkbänke in Berliner Grünanlagen zentrale Plätze in deinen Miniaturen. Wie kam das?

„Viele dieser Parkbank-Geschichten im Buch sind tatsächlich während der Pandemie entstanden. Plötzlich konnte man die Leute nicht mehr an einem Ort antreffen, und ich kann ja nicht einfach irgendwelchen Menschen im Park hinterherlaufen – das wäre irgendwie creepy. Deshalb habe ich mich in der Zeit irgendwo platziert, meistens auf Parkbänken.“

„In der Gesellschaft werden ältere Menschen oft übersehen, und ich wollte ihnen den Raum geben, den sie verdienen.“

Linda Rachel Sabiers

Wie hast du entschieden, welche der Momente und Szenen ins Buch kommen? Da gab es vermutlich viel Material.

„Ja, sehr viel. Das Schwierigste beim Schreiben war tatsächlich, den Geschichten eine Chronologie zu geben. Die größte Herausforderung war, zu entscheiden, welche Geschichten ins Buch kommen und wie sie sich sinnvoll aneinanderfügen. Dafür gibt es keine Zauberformel. Ich habe versucht, eine gute Mischung aus verschiedenen Perspektiven und Erlebnissen zu schaffen: Geschichten aus Cafés, von Parkbänken, über Zwischenmenschliches, Gespräche mit mir selbst und Beobachtungen.

Ein Thema, das sich immer wieder gezeigt hat, ist Einsamkeit, besonders bei älteren Menschen. Sie haben ein ganzes Kapitel im Buch bekommen, weil sie mir sehr wichtig sind. In der Gesellschaft werden ältere Menschen oft übersehen, und ich wollte ihnen den Raum geben, den sie verdienen. Das war mir ein großes Anliegen.“

Ja, du beschreibst oft Szenen, in denen Kinder und ältere Menschen vorkommen. Was berührt dich an ihnen, was können wir von ihnen lernen?

„Wir können lernen durch dieses gewisse ,Ungefiltertsein’. Alte Menschen und Kinder haben nicht so viel zu verlieren. Kinder, weil sie noch nicht wissen, was passiert und alte Menschen, weil sie schon alles gesehen haben. Das finde ich sehr schön. Natürlich begegnet man auch alten Menschen, die verbittert oder garstig sind – die kommen im Buch eher weniger vor. Aber auch das berührt mich auf eine gewisse Weise. Bei manchen spürt man eine Lebensmüdigkeit, die sich in Wut oder Ungeduld äußert. Das hat ebenfalls eine Tiefe, die mich nachdenklich macht.“

Ist dieses Garstige nicht auch eine Art Ruf nach Aufmerksamkeit? Vielleicht spüren sie, dass sie mit der ganzen Digitalisierung nicht mehr mithalten können, obwohl sie eigentlich so viel zu erzählen hätten.

„Total. Es ist ja ein bekanntes Phänomen, dass Alterseinsamkeit vor allem in Großstädten ein großes Thema ist. Viele haben einfach niemanden, mit dem sie sprechen können. Wenn sie dann jemanden wie mich auf einer Parkbank sehen – alleine, scheinbar ohne Ziel und in ihren Augen vielleicht sogar ohne Job (lacht)… – empfinden sie das fast schon als Einladung, ein Gespräch zu beginnen. Das ist irgendwie toll.“

Das Lesen des Buches ist für mich vergleichbar mit einem Spaziergang durch die Stadt. Du schärfst mit deiner Sprache die Sinne. Gibt es Autor*innen oder Bücher, die dich inspiriert haben?

„Ich habe als Jugendliche und junge Erwachsene unglaublich viel Zeit mit meiner Großmutter in Cafés verbracht. Sie war großartig darin, Situationen zu kommentieren und Menschen zu beschreiben.

Ein prägendes literarisches Vorbild für mich war Erich Kästners ,Fabian’. Das ist ja auch eine Art Großstadtflaniergeschichte, Kästner beschreibt wunderbar, wie die Seitenstraßen des Ku’damms aussehen und wie die Stadt wirkt. Das hat mich sehr beeindruckt. Ein anderer Einfluss war tatsächlich Charles Bukowski. Er hat mir beigebracht, wie man einen leicht zynischen Blick auf Menschen werfen kann – ohne sie dabei zu bewerten, sondern sie einfach in ihrer Gesamtheit zu erkennen. Auch ihre Dunkelheit anzuerkennen, das hat mich schon geprägt.“

Apropos Dunkelheit: Auf kleinem Raum vereinst du sehr viele Gefühle – Liebe, Traurigkeit, Hoffnung, Melancholie. Passiert das bewusst, oder ist das einfach ein Teil von dir?

„Ich würde sagen, ich bin emotional sehr stark in alles eingebunden. Zugleich bin ich sehr offen und roh, sowohl mit mir selbst als auch mit anderen. Ich hätte immer gerne mysteriös sein wollen, aber das bin ich einfach nicht. Meine Offenheit triggert bei anderen oft das Bedürfnis, sich mir ebenfalls zu öffnen. Wenn ich ein Talent habe, dann vielleicht genau das: dass sich Menschen schnell bei mir wohlfühlen, mir vertrauen.

Das spiegelt sich auch in meinen Gesprächen wider. Das Buch ist ja nicht nur rein beobachtend, viele Menschen kommen aktiv mit mir ins Gespräch, und ich glaube, meine Art erleichtert es ihnen, sich mir anzuvertrauen. Ich denke, das liegt auch daran, dass ich sehr viele Emotionen in mir trage – und dadurch auch die Emotionen in anderen Menschen besser wahrnehmen kann.“

„Die Rechten profitieren von einer zunehmenden Empathielosigkeit in unserer Gesellschaft.“

Linda Rachel Sabiers

Vor dem Hintergrund der politischen Lage wäre es ja durchaus wichtig, diese Offenheit füreinander insgesamt zu stärken und mehr miteinander ins Gespräch zu kommen.

„Total. Die Rechten profitieren von einer zunehmenden Empathielosigkeit in unserer Gesellschaft. Diese Empathielosigkeit, gepaart mit einem extremen Fokus auf das Individuum, verstärkt nicht nur rechte Tendenzen, sondern fördert auch jede Form von Extremismus, ob Faschismus, Islamismus oder anderes. Viele Menschen leben nach dem Prinzip ,nach mir die Sintflut’. Das zeigt sich auch in Personen wie Elon Musk, der mit seinen Milliarden lieber den Mars besiedeln möchte, statt sinnvolle Projekte auf der Erde zu fördern.

Mein Buch ist ein Versuch, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Es plädiert für mehr Aufmerksamkeit für den ,Mikrokosmos’ – die kleinen, unmittelbaren Dinge um uns herum. Ich glaube, dass wir die großen Probleme unserer Zeit besser verstehen und angehen können, wenn wir mit kleinen Schritten beginnen. Es geht darum, sich auf den Augenblick zu konzentrieren: Wer sitzt gerade neben mir? Wer drei Stühle weiter? Wer auf der anderen Seite? Wenn wir von diesem Kleinen ausgehen, können wir irgendwann das Große besser begreifen.

Ich glaube, unsere Gesellschaft leidet unter einem tiefen Gefühl des Kontrollverlusts, das sich schon seit Jahren abzeichnet – durch Digitalisierung, Globalisierung und jetzt auch KI. All diese Entwicklungen eröffnen uns ungeahnte Möglichkeiten, aber sie überfordern uns auch. Höher, schneller, weiter – ich glaube nicht, dass der Mensch als fühlendes Individuum dafür gemacht ist, diese Größenordnung dauerhaft zu verkraften. Ich möchte mit den ,Kleinen Momenten in der großen Stadt’ einen Schritt zurückgehen. Es beginnt bewusst mit einer Erinnerung aus meinem Kinderzimmer – als Einladung, das Große mal auszublenden und sich stattdessen auf das zu konzentrieren, was direkt vor der eigenen Tür passiert. Ich bin überzeugt, dass aus diesem Fokus auf das Naheliegende die Empathie entsteht. Und mit Empathie entwickelt sich ein anderes Verständnis von Gerechtigkeit. Das ist, glaube ich, eine gute Grundlage für Veränderungen.“

Hast du das Gefühl, dass die Menschen insgesamt misstrauischer geworden sind, wenn es darum geht, aufeinanderzuzugehen?

„Ich glaube, wir neigen mittlerweile dazu, bei anderen Menschen immer zuerst das Schlechte zu vermuten – was angesichts der Ereignisse der letzten Jahre auch nachvollziehbar ist. Die Pandemie war eine große Zäsur, dazu kommen der Krieg in der Ukraine, die Konflikte im Nahen Osten, Inflation und so vieles mehr. All das hat uns scheuer voreinander gemacht, weil es einfach zu wenige positive Beispiele gibt.

In meinem Buch wollte ich genau solche positiven Beispiele aufzeigen: einander zuhören, helfen, füreinander da sein. Es ist erstaunlich, wie glücklich man jemanden machen kann, wenn man einfach nur zuhört. Das klingt vielleicht pathetisch, aber es ist so.

Ein Lektor, der mein Buch rezensiert hat, schrieb, man könnte dem Buch vorwerfen, es sei eine Sammlung von ,schönen Kalendersprüchen’. Ich habe ihn daraufhin angeschrieben und meinte, man könnte auch seiner Rezension einiges unterstellen. Aber letztlich habe ich meinen Frieden damit geschlossen, weil es stimmt: Das Buch ist in Teilen banal, es ist manchmal pathetisch. Doch am Ende geht es um Liebe und darum, dass wir wieder das Schöne in anderen Menschen sehen. Und genau das geht unserer Gesellschaft zunehmend verloren. Ich glaube, dass es wichtig ist, daran zu erinnern.“

Ich würde dem Rezensenten dennoch widersprechen. Das Buch ist eine Öffnung, es erzählt über echte Menschen, ist also das Gegenteil von Kalendersprüchen.

„Ich glaube, was er damit meinte, war dieses Besinnen auf ganz klassische Emotionen wie Liebe, Zwischenmenschlichkeit und das, was wir vielleicht aus der Romantik kennen – manchmal auch mit einem Hauch von Kitsch. Viele Menschen würden das, was im Buch steht, heute vermutlich tatsächlich als kitschig bezeichnen, und damit habe ich überhaupt kein Problem. Wenn Kitsch bedeutet, dass wir einander zuhören, unsere Augen wieder für das Menschliche um uns herum öffnen, dann ist das völlig in Ordnung. Dann darf es eben Kitsch sein.“

„Ist das Kitsch? Oder ist das einfach etwas Wichtiges, was uns abhanden gekommen ist?“

Linda Rachel Sabiers

In dem Fall brauchen wir unbedingt mehr Kitsch… Du bist auch Mutter. Wie hat sich deine Perspektive auf alltägliche Berührungspunkte mit Menschen im öffentlichen Raum seit der Geburt deiner Tochter verändert.

„Das ist vielschichtig. Einerseits hat mir meine Tochter beigebracht, langsamer durch die Welt zu gehen. Als Mutter kennst du das sicher: Kinder sehen Dinge, die wir oft übersehen. ,Mama, schau mal, da ist ein Kaugummi an der Treppe.’ Ja, da ist tatsächlich ein Kaugummi. Oder: ,Mama, guck mal, der Mann geht komisch.’ Und dann überlegen wir zusammen, warum das so sein könnte. Mir ist dabei aufgefallen, wie oft wir unsere Kinder hetzen – schnell in den Kindergarten, schnell wieder raus. Dabei frage ich mich manchmal: Muss es wirklich schnell gehen, oder ist das nur mein eigenes Tempo, das ich meinem Kind aufzwingen will? Manchmal lasse ich es bewusst langsamer angehen. Es kommt vor, dass wir für die 400 Meter Luftlinie zwischen Kita und Spielplatz 45 Minuten brauchen. Und das ist okay, weil ich mir die Zeit dafür nehme.

Ich bin so darauf konditioniert, mich schnell von A nach B zu bewegen, dass mir erst jetzt auffällt, wie sehr das meinem Kind widerspricht. Mit ihm entdecke ich eine ganz andere Art, die Welt zu sehen. Und ich merke, dass wir als Gesellschaft so stumpf geworden sind für diese Magie, die in Kindern steckt. Wie sie einen angucken, was sie für Fragen stellen, wie glücklich sie mit dem Einfachsten sind. Wenn meine Tochter eine Kastanie findet, ist sie so happy, und auch da wieder der Gedanke: Ist das Kitsch? Oder ist das einfach etwas Wichtiges, was uns abhanden gekommen ist?“

Es geht ein ganz schwieriges, wildes, aufregendes, anstrengendes, trauriges, verzweifeltes, teilweise auch absurdes Jahr zu Ende. Welche Wünsche hast du an das kommende Jahr?

„Mehr Nähe.“

„Kleine Momente in der großen Stadt“

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