Drei Kinder sitzen auf der Wiese und sprechen miteinander.
Foto: Charlein Gracia | Unsplash

„Ich bin nicht niedlich!“ – Was wir unseren Kindern vorleben und mitgeben

Arbeit, Kita, Freund*innen, Schule – die Welten, aus denen sich so ein Eltern-Leben zusammensetzt, sind schon sehr weit voneinander entfernt. Unsere Editorial Lead hatte vor der Geburt ihrer Kinder eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was sie ihren Kindern vorleben wollte.

Was wollen oder sollten wir unseren Kindern vorleben und mit auf den Weg geben? Unsere Autorin verbindet die vielen verschiedenen Punkte in ihrem Leben für den Versuch einer Antwort. – Dieser Text erschien im August 2022 erstmals in ungekürzter Fassung auf dem Rock’n’Raise Festival, zu dem die EDITION F Redaktionsleiterin Anne-Kathrin Heier als Speakerin eingeladen war.

Wie so viele, habe auch ich immer gesagt: Ich möchte es später mit meinen eigenen Kindern mal besser machen. Was genau ich damit meinte? Das konnte ich vor meinem Muttersein schnell beantworten: Ich will mich nicht aufgeben, will mich nicht vergessen, will nichts „aushalten müssen“ und meinen Kindern zeigen, dass ich mich nicht von einem Familienalltag auffressen lasse, nur weil ich „die Mutter“ bin und über viele Generationen hinweg eine vermeintlich alleinige Verantwortung innerhalb dieser Familie übertragen bekommen habe – ohne dabei sichtbar zu sein, Stichwort Mental Load. Das wollte ich nicht. Ich wollte meine Träume nicht aufgeben und auch insbesondere meiner Tochter zeigen: Ich bin eine arbeitende Frau, ein Mensch mit eigenem Humor, den ich unbedingt behalten will – und Mutter. Ich wollte meinen Kindern vorleben, dass das alles zusammen geht. Dass das möglich ist.

Ich wollte ihnen von meiner Arbeit erzählen, wollte sie zum Lachen bringen und sie neugierig machen auf die Welt. Da war mir noch nicht klar, dass das nicht so einfach wird, denn es gibt eine Menge externer Stimmen, die sich dazu auch erheben möchten. Angefangen bei der Kita, in die unsere Kinder nun einige Jahre gehen. Es gab kaum eine Mutter, die wie ich Vollzeit arbeitete. Und ich war hier immer wieder Thema, direkt oder indirekt. Die Kinder würden unter meiner Vollzeit-Arbeit leiden. „Sie vermissen dich!“, habe ich gehört, oder „die brauchen dich doch!“ Die Kinder wiederum bekommen Teile dieser Gespräche mit, und ich fragte mich, was bei ihnen eigentlich ankam. Dass ich eine „schlechte“ Mutter bin? Und wenn ich höre – direkt oder indirekt – dass ich aufgrund meiner Vollzeitarbeit vor allem an mich und weniger an die Kinder denke, dann kann ich noch so sehr hinter meinem Konzept stehen: Ich werde ständig erschüttert durch die Welt gehen.

Schlechte Mutter, gute Mutter, bessere Mutter? Was steckt eigentlich hinter diesen absurden Attributen?“

Bewegen wir uns kurz mal ein paar Schritte zurück und schauen uns diese Worte genauer an: schlechte Mutter, gute Mutter, bessere Mutter? Was steckt eigentlich hinter diesen absurden Attributen? Kommen die wirklich von mir? Oder ist diese Haltung, die dahinter steckt, nicht eigentlich viel, viel älter als ich? – Wo ist diese Mutter, die ihre Kinder durch kluge Kombination sämtlicher für gut befundener Erziehungskonzepte zu starken und glücklichen Individuen macht, die im Job kontinierlich erfolgreich ist, die dabei sehr (sehr) schön aussieht, die immer sanft lächelt und der niemals, wirklich niemals die Luft ausgeht? Vielleicht auf Instagram, wo unter trendigen Hashtags wie #traditionalwife das alte Rollenbild hochgehalten und von nach Perfektion strebenden Müttern teilweise missioniarisch gelebt wird. Und was denken sich die Töchter*Söhne dabei?

Mutter-Tochter-Beziehung

Erst als ich selber Kinder hatte, normalisierte sich die Beziehung zu meiner Mutter irgendwie. Ich konnte vieles von dem verstehen, was sie erlebt hatte und erkannte – so absurd das klingt – meine eigene Mutter vielleicht zum allerersten Mal wirklich als Individuum mit einer eigenen Geschichte und eben nicht nur als „meine Mutter“. Sie wurde streng katholisch erzogen, durfte keine freien Entscheidungen treffen, was ihre berufliche Zukunft betrifft, sie wurde aufgezogen mit dem Glaubenssatz: Frauen sind dazu da, um sich um die Familie zu kümmern, zu glauben, zu kochen, aber sie tragen keinen ernsthaften Teil zur Stärkung der Wirtschaft eines Landes bei. Später dann ist meine Mutter ein Mensch, der Träume aufgibt, weil die Gesellschaft das von Müttern nun mal so verlangte – damals und ja, auch heute noch.

Meine Mutter sagt heute: „Ich war niemals neidisch auf Menschen, die viel Geld haben. Ich war niemald neidisch auf Menschen, die besonders gut aussehen, besonders große Häuser besitzen oder besonders weite Reisen machen können. Aber wenn jemand sagte, dass er*sie den eigenen Job wirklich liebe und ihm auch nachgehe, dann wurde ich immer neidisch.“ Und während sie das sagt, sieht sie bedrückt aus, rückwärtsgewandt, auf einen ganz konkreten Punkt in ihrem Leben blickend.

Natürlich können wir unsere eigenen Entscheidungen treffen, und das tun wir auch. Aber teilweise eben mit ungeheurem Gegenwind. Wie sehr alles miteinander zusammenhängt und welche Dimensionen dieses Thema hat, wird mir in meinem Job immer wieder klar. Und ich muss konkret über meine Arbeit erzählen, um die Tragweite dessen aufzuzeigen, was wir unseren Kindern mit auf den Weg geben (sollten).  

„Die Frauen sind schuld!“

Vor wenigen Wochen interviewte ich in den Redaktionsräumen eine Frau, die für mich ein echtes Vorbild ist und deren Arbeit ich sehr schätze: Stefanie Knaab. Sie hatte im Juni den EDITION F Award für mehr Mut 2022 bekommen. Denn Stefanie hat eine App entwickelt, die Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, schnell und unkompliziert helfen soll, ohne sie in Gefahr zu bringen. Häusliche Gewalt, sagt sie, werde von der Politik, aber auch von der Gesellschaft als nicht wichtig oder dringlich genug angesehen. Und das bei unfassbaren Zahlen: Alle zweieinhalb Tage wird eine Frau von einem ihr nahestehenden Mann umgebracht. Jeden Tag versucht es einer. Und jede vierte Frau in Deutschland war in ihrem Leben schon von psychischer oder physischer häuslicher Gewalt betroffen.

„Es fängt schon im Kindesalter an. Im Kindergarten wird uns gesagt: Wenn ein Junge dich schlägt, dann mag er dich eigentlich.“

Stefanie Knaab

Frauen, sagt Stefanie Knaab, seien in unserer Gesellschaft ganz offensichtlich weniger wert. Das sei ein ganz altes Problem. Und die Wut sei groß, aber eben nicht so groß, dass wir geschlossen auf die Straße gehen und immer und immer wieder für unsere Rechte kämpfen: „Es fängt ja schon im Kindesalter an. Im Kindergarten wird uns gesagt: Wenn ein Junge dich schlägt, dann mag er dich eigentlich. Es braucht noch 137 Jahre, bis Frauen und Männer gleichberechtigt sind, und diese Zahl wird immer wieder nach oben korrigiert. Frauen rutschen viel eher in Altersarmut ab als Männer, das sind alles Dinge, die müssen von Grund auf angepackt werden.“

Wenn häusliche Gewalt in Deutschland passiert, dann überlegt sich die Frau dreimal, das nach außen zu tragen – viel zu stigmatisiert ist dieses Thema in unserem Land. Denn es wird in solchen Fällen niemals auf den Mann gezeigt. Die erste Frage hingegen lautet immer: Warum lässt sich die Frau das gefallen? Warum geht die Frau nicht? Statt zu fragen: Warum schlägt dieser Mann?“

Ich lasse das mal so stehen.

„Frauen können keine Naturwissenschaften“

Für einen Artikel über Frauen in der Wissenschaft machte ich eine Instagram-Umfrage in der Community. Die Frage war einfach: „Wer hat dir beigebracht, dass du Mathe nicht kannst?“ Das Feedback war riesig. Niemand von uns aus der Redaktion hätte gedacht, dass wir dermaßen viele Zuschriften auf allen Kanälen dazu bekommen würden. Zuschriften, die zeigen, dass sich in all der Zeit, in den letzten 20 Jahren, nichts verändert hat.

Die Diplomingenieurin Anja Frank ist Leiterin der Abteilung Versuchsanlagen am Institut für Raumfahrtantriebe im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrttechnik (DLR), und sie sagte in unserem Podcast LAB GAP: „Ich habe auch zu hören gekriegt: Du musst dich gar nicht reinhängen, in zwei Jahren heiratest du, kriegst Kinder und dann brauchst du keine Karriere mehr.“

Okay, verstanden: Frauen müssen nicht lernen. Frauen sind ab der Schwangerschaft sowieso nur noch halbe Kräfte, wenn überhaupt. Und mit Zahlen hatten die ohnehin noch nie was am Hut.
Aber heute, im Jahr 2022? Hat sich mittlerweile nicht wahnsinnig viel geändert? Sind wir nicht unglaublich weit gekommen? Na gut. Dafür, dass 1997 Vergewaltigung in der Ehe verboten wurde, dafür dass 2001 das Gewaltschutzgesetz in Kraft trat, dafür dass eine Frau in Westdeutschland noch bis 1977 nur dann berufstätig sein durfte, wenn das „mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar“ war ­– ja, stimmt, dafür sind wir schon ein Stückchen weiter.

„Frauen in der Teilzeitfalle. Altersarmut. Der Mann als Standardvorlage eines Gesundheitssystems, für das ,Endometriose‘ bis vor kurzem noch ein Synonym für die Tendenz zu Blähungen war.“

Aber Frauen, Menschen der LGBTQI+-Communitiy, Menschen mit Behinderung sind grundsätzlich weniger wert als Männer, das zeigt sich an all den GAPs, die so oft Teil von Podiumsdiskussionen und Talkshows sind und die trotz allen Wissens, das wir heute haben, in 137+x Jahren noch nicht geschlossen sein werden. Frauen in der Teilzeitfalle. Altersarmut. Der Mann als Standardvorlage eines Gesundheitssystems, für das „Endometriose“ bis vor kurzem noch ein Synonym für die Tendenz zu Blähungen war.

Echte Veränderung?

Wie lässt sich das alles durchbrechen? Wie kommen wir raus aus dem ständigen Benennen eines Miss- und Stillstands und rein in echte Veränderung?

Foto: EDITION F

Bevor ich Kinder hatte, habe ich mir vorgestellt, was für eine Mutter ich mal sein möchte, sollte ich mal Mutter sein. Was Mutterschaft für mich eigentlich bedeuten könnte. Und ich hatte so ein Bild vor Augen, das ich noch immer mag:

Ich laufe mit meinen Kindern eine Straße entlang, da sind links und rechts Bäume und Häuser und Menschen und kleine Stadtszenen. Ab und zu zeige ich auf Dinge, die ich sehenswert oder überdenkenswert finde. Ich zeige ihnen die Welt so, wie ich sie sehe, ohne ihnen meinen Blick aufzudrängen. – Und das wars.

Aber als Elternteil kannst und darfst du dich nicht freimachen von äußeren Einflüssen. Plötzlich höre ich meinen Sohn D., wie er im Nebenzimmer schreit: „P. darf nicht mit der Ritterburg spielen, weil P. ein Mädchen ist! Nur Jungs können Ritter sein!“ („Das steht so in Ritter Trenk!“). Und P. antwortet wütend: „Dann bin ich eben Prinzessin!“, womit D. ziemlich einverstanden ist und sich beruhigt dem Katapult zuwendet. – Woher kommt das?, frage ich mich erschrocken … und öffne die Tür zu unserer Kita in dem Moment, als ein Vater zu D. sagt: „Jetzt hör mal auf zu heulen, du bist schließlich ein Mann!“

„Weshalb schleichen sich all diese Kategorien, aus denen wir uns im Alltag ununterbrochen mit aller Kraft herauszuschälen versuchen, ausgerechnet in den Büchern für die Kleinsten wieder ein?“

Ich blättere durch ein paar Bilderbücher, die die Kinder mochten, als sie so drei, vier Jahre alt waren. In 95 Prozent der Fälle geht es hier um ganz besonders mutige männliche Helden: „Nick und der Wal“, „Leo Lausemaus“, „Beste Freunde“, „Moritz in der Autowerkstatt“, aber auch Lernbücher aus der Reihe ,Wieso, Weshalb, Warum‘ oder Wimmelbücher, in denen keine Schwarzen Menschen, keine People of Color, keine Menschen mit Behinderung zu sehen sind, und kaum ein Ausbruch aus alten Rollenmustern. Und schließlich wären da noch Grimms Märchen, die ganz besonders beliebt sind in Einrichtungen für Kleinkinder.

Ich begutachte die Bilderbücher aufmerksamer, und da blinzeln die „schönen Prinzessinnen“ in Richtung der kampfbereiten Ritterjungs. In einem Buch über Werkzeug bohrt der starke Papa ein Loch in die Wand, während die dankbare Mama den Umzugskarton ausräumt, auf dem „Küche“ steht. Die Polizei tritt fast immer männlich auf, es sei denn, sie reitet auf Pferden, dann ist gelegentlich auch eine Frau dabei. Und hier: Endlich ein Buch mit einem Mädchen im Mittelpunkt, das sich am Ende einen „knallrosa Roller“ wünscht. Warum? Weshalb schleichen sich all diese Kategorien, aus denen wir uns im Alltag mit aller Kraft herauszuschälen versuchen, ausgerechnet in den Büchern für die Kleinsten wieder ein? Oder was heißt, „einschleichen“? War das je anders? Fällt das überhaupt auf – Ravensburger, Carlsen, Beltz & Co?

„Lasst euch von niemandem sagen, dass ihr irgendetwas nicht fühlen oder sein dürft. (Und weint verdammt noch mal, wenn ihr traurig seid!)“

Ich habe einen Blog, in dem ich insbesondere in der Corona-Zeit meinen Kindern Briefe geschrieben habe. Darin heißt es an einer Stelle: „Ich möchte euch ganz viel beibringen. Ich möchte mit euch durch die Stadt und durch den Wald gehen und euch die Dinge zeigen, die mir auffallen und richtig lange Geschichten erzählen. Aber ich möchte auch, dass Bücher euch von der Welt erzählen. Dass auch Bücher euch beibringen, dass ihr alles dürft! D., du darfst ja Ritter sein, aber eben auch Eiskunstläufer*in oder Friseur*in oder Schokoladenverkäufer*in (aktueller Favorit)! Und P., du darfst gerne Prinzessin sein, aber eben auch Ritter*in oder Astronaut*in oder Akkordeonbauer*in! Verwandelt euch in Löwen, Füchse oder Giraffen, lauft durch Pfützen, guckt in den Himmel, schreit, wenn euch etwas nicht passt, seid laut, seid frech, seid wütend, lasst euch von niemandem sagen, dass ihr irgendetwas nicht fühlen oder sein dürft. (Und weint verdammt noch mal, wenn ihr traurig seid!)“

Schulsystem, Chancen(un)gleichheit, Hoffnung

Für das Magazin habe ich mir das Schulsystem in Deutschland angeschaut. Dafür habe ich die Community vorab gefragt, welche Fächer ihnen früher gefehlt haben bzw. welche Fächer es in Zukunft dringend geben müsste. Hier wurden Genderneutralität, Chancengleichheit und Feminismus in den Mittelpunkt gestellt – vorwiegend von Eltern und Menschen, die bereits Teil des Bildungssystems sind. Einerseits versucht man alles, dass die vielen Altlasten aus vergangenen Jahrhunderten unsere Kinder nicht tangieren. Dann merken wir; das könnte auf einen Kampf gegen Windmühlen hinauslaufen.

Oder gibt es da etwa noch Hoffnung? Nehmen wir mal das Beispiel Gender und die genderneutrale Erziehung. Der Widerstand ist extrem und ich denke, das liegt daran, dass wir noch einen ziemlich weiten Weg vor uns haben, bevor genderneutrale Erziehung auch von Seiten der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert wird. Die Vision wäre: Wenn wir eine offenere Umgebung gestalten, die Kindern zeigt: Du bist genauso richtig, wie du bist, dann kommen wir dem näher, dass sich Kinder grundsätzlich aufgehoben fühlen und infolgedessen auch mit ihrem Körper besser klarkommen.

„Ich will mit meinen Kindern über solche Situationen sprechen können. Und dafür muss ich ihnen einen Raum geben, in denen das möglich ist.“

Bis dahin möchte ich meine Kinder für diese alten, in den Boden der Gesellschaft einzementierten Rollenbilder, für die Traditionen, das eingeschränkte binäre Denken und Engstirnigkeiten, die uns Tag für Tag begegnen, zumindest sensibilisieren. Ich möchte, dass meine Kinder hinterfragen, was ihnen da auch von anderen Kindern und Eltern, von Erzieher*innen, von der Werbung, den Medien oder auch von den Lehrer*innen mitgegeben wird. Ich möchte wissen, wenn ein Lehrer zu meinem Kind sagt, es sei halt ein Mädchen und da wäre es normal, wenn es sich mit Mathe schwer tut – damit ich mit ihm darüber sprechen kann. Ich möchte wissen, wenn ein Elternteil zu meinem Kind sagt, es solle aufhören mit dem Geheule, schließlich sei es ein Mann, und Männer heulen nicht. Ich will mit meinen Kindern über solche Situationen sprechen können und dass sie ein Bewusstsein für Fehlverhalten bekommen, egal, ob sie involviert sind oder nicht. Und dafür muss ich ihnen den Raum geben, in dem das möglich ist. 

Meine Tochter tanzt im Wohnzimmer und hört den Song: „Ich bin nicht niedlich“, von Larissa Pesch (Tipp: „Unter meinem Bett 4“). Immer, wenn diese Zeile an der Reihe ist, schreit sie so laut mit, dass ganz Berlin Bescheid weiß. Die Zeit der Glitzerkleidchen ist vorbei, die Zeit, in der sie Balletttänzerin werden wollte, auch. Das kam nicht durch mich, das hat sie selbst so entschieden. Aber ich muss gestehen: Ich bin froh darüber.

Die Straße, auf der ich mit beiden Kindern an der Hand durch die Welt gehe, ist ein schönes Bild. Aber es kann auch zu einem Märchen werden. Denn nicht nur wir Eltern müssen etwas tun, um unsere Werte und die Offenheit, die wir Kindern mitgeben möchten, ankommen zu lassen. Es sind auch die Politik, das Bildungssystem, die Gesellschaft.

„Natürlich haben wir nicht alles in der Hand!“

Natürlich haben wir nicht alles in der Hand. Das geht ja auch gar nicht. Und ich glaube, dass ich gerade erst ahnen kann, was Schule bedeutet. Mein Sohn wurde vor wenigen Tagen eingeschult. Er ist sehr introvertiert, macht alles mit sich allein aus.
Beim Online Bildungsgipfel 2022 sagte der Psychologe und Autor Peter Otis Gray: „Kinder leiden an Ängsten. Sie leiden an Depressionen. Und fast niemand traut sich öffentlich zu sagen, dass die Schulen daran Schuld sind. Dabei ist es meistens die Schule, die daran Schuld ist. Fragen Sie die Kinder, die sagen es Ihnen.“

Und das möchte ich tun. Ich möchte meine Kinder fragen, wie ihr Tag war. Fragen nach Situationen, die ihnen Angst machen oder die sie irritieren. Fragen nach Momenten, die bei ihnen wiederum Fragen auslösen. Ich möchte meinen Kindern zeigen, dass wir uns für eine gleichberechtigte Zukunft für alle einsetzen müssen. Ich möchte meinen Kindern sagen, wieder und wieder, dass sie ok sind, wie sie sind. Ich möchte meinen Kindern beibringen, dass kein Mensch weniger wert ist als der andere – unabhängig von ethnischer Herkunft, Geschlecht, Behinderung, Religion oder Weltanschauung, Alter oder sexueller Identität.

Wir sollten zusammenstehen, uns der Existenz veralteter Rollenbilder bewusst sein und uns ganz klar machen, dass noch sehr viel mehr zu tun ist, als der aktuelle öffentliche Diskurs scheinen lässt.

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