Foto: Timon Royer

Melina Royer: „Schüchternheit ist nichts, was man bekämpfen oder ,behandeln‘ muss“

Perfektionismus und Versagensängste machen schüchternen Menschen oft das Leben schwer. Melina Royer kennt diese Gefühle ganz genau – und hat sie akzeptieren und lieben gelernt. Wie sie das geschafft hat, erzählt sie in ihrem ersten Buch.

 

Die Angst vor dem Versagen 

Was denken die Leute von mir? Wie sehe ich gerade aus? Was, wenn ich etwas Falsches sage? Die Angst vor dem Versagen und der Hang zum Perfektionismus machen schüchternen und hochsensiblen Menschen das Leben schwer. Creative Director Melina Royer, die sich selbst als schüchtern, introvertiert und hochsensibel beschreibt, kennt diese Gefühle ganz genau. In der Schulzeit galt sie als Eiskönigin, sie zerbrach sich über alles den Kopf und brach aus Versagensangst schließlich ihr Abitur ab. 

Heute ist Melina 30, Autorin des Blogs für Schüchterne Vanilla Mind und Co-Gründerin einer eigenen Agentur. Und: Sie hat gerade erst ein Buch veröffentlicht, dessen Titel zugleich ihr Lebensmotto ist: Verstecken gilt nicht!

Wir haben uns mit Melina über ihre Erinnerungen an die Schulzeit, Tipps gegen Selbstzweifel und ihren perfekt ausgeglichenen Alltag unterhalten. 

Wann hast du deine Schüchternheit zum ersten Mal bewusst wahrgenommen?

„Ich war schon im Kindergarten ein schreckhaftes, ängstliches Kind. Allerdings war ich natürlich nicht so reflektiert, um auf die Idee zu kommen, dass man das schüchtern nennt. Auf dem Gymnasium verfestigte sich bei mir aber irgendwann der Gedanke, dass ich nicht okay sei, denn alle anderen wirkten so unbeschwert im Vergleich zu mir, während mein Alltag subjektiv eher einem Schlamm-Parcours aus Takeshi’s Castle glich – Hauptsache heile durchkommen und überleben. 

Wenn ich einmal in der glücklichen Lage war, neue Leute kennenzulernen, lag es daran, dass sich jemand wirklich viel Mühe gab und auf mich zukam. Ich habe selten von mir aus mit Fremden gesprochen, nur mit einigen wenigen ,Auserwählten‘ in meiner engen kleinen Komfortzone. Das brachte mir den Ruf der arroganten Eisprinzessin ein und nicht nur einmal hörte ich den Satz: ,Oh, du bist ja doch ganz nett. Du wirkst sonst immer so kühl und arrogant.‘ Klassiker!“ 

„Ich würde Schüchternheit niemals als etwas bezeichnen, das man bekämpfen oder gar ,behandeln‘ müsste.“ 

Wie interpretierst du Schüchternheit für dich? Wie du selbst schreibst, ist Schüchternheit ja ein sehr schwammiger Begriff.

„Stimmt. Per Definition versteht man darunter Schwierigkeiten und Ängstlichkeit beim Knüpfen von Kontakten. Grundsätzlich ist es ein ganz normales Charaktermerkmal, schüchtern zu sein. Ich würde Schüchternheit niemals als etwas bezeichnen, das man bekämpfen oder gar ,behandeln‘ müsste. Ängste sind ja auch etwas vollkommen Normales, wir brauchen sie zum Überleben. Es gibt allerdings auch ein Zuviel dieser Angst und das umschreibt das Wort Schüchternheit nicht besonders gut. Zu einem Problem wird Schüchternheit nämlich dann, wenn ich sie selbst als eines empfinde und das Gefühl habe, meine Ziele nicht erreichen zu können.

Hinter diesem oftmals als niedlich empfundenen ,Sich-nicht-Trauen‘ können starke Selbstzweifel, Versagensängste und Angst vor Ablehnung stecken. Bei dem einen sind es vielleicht nur kleine Unsicherheiten, die total okay für ihn sind. Für andere ist die Schüchternheit aber etwas, das sie immer wieder blockiert und belastet.

Schüchternheit ist also nicht gleich Schüchternheit, sie kann bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt sein. Ich habe auch schon Aussagen gehört wie ,jetzt tut doch nicht so, als wenn Schüchternheit etwas Schlimmes wäre‘. Theoretisch ist sie das nicht – trotzdem ist so ein Satz ein Schlag ins Gesicht. Im Grunde genommen sagt man mir damit nämlich: ,Ich nehme dich nicht ernst. Deine Probleme sind unwichtig.‘“ 

Quelle: Timon Royer

Kannst du noch mal kurz den Unterschied zwischen schüchtern und introvertiert erklären?

„Beide Charaktermerkmale haben viel gemeinsam, deswegen werden sie auch so oft verwechselt: Sowohl Schüchterne als auch Introvertierte sind still, zurückhaltend und beobachten ihre Umwelt gern sehr genau und eingehend. Sie sind gute Zuhörer und haben ein sehr reiches Innenleben. ,Stille Wasser sind tief‘ trifft es da ganz gut.

Der Unterschied besteht darin, dass Introvertierte nicht von einer Angst angetrieben werden, Schüchterne hingegen schon. Ein Introvertierter würde zum Beispiel nicht auf andere zugehen, weil er Zeit für sich braucht oder gerade einfach keine Lust auf Gesellschaft hat. Ein Schüchterner hingegen würde vielleicht gern mit anderen reden, traut sich aber nicht und ist hin- und hergerissen. Das ist nur ein banales Beispiel – in der Realität gibt es eine Menge Menschen, die sowohl introvertiert als auch schüchtern sind.“

„Es wird einem von Anfang an vermittelt, dass Schüchternheit etwas Unerwünschtes sei, das nicht ins Raster passt.“ 

Wann und wie ist dir klar geworden, dass Schüchternheit in unserer Gesellschaft eher negativ wahrgenommen wird?

„Das ganze Schulsystem kann eine schwierige Angelegenheit für Schüchterne sein – alles ist von vorne bis hinten auf Gruppenarbeit, öffentliche Beteiligung und andere extrovertierte Verhaltensweisen ausgelegt. Wer nicht laut vorrechnen oder vorsingen mag, wird dann eben zur Zielscheibe für die restlichen 20 Schüler, die damit kein Problem haben. So wird einem von Anfang an vermittelt, dass Schüchternheit etwas Unerwünschtes sei, das nicht ins Raster passt. Statt dem Kind Mut zu machen, sich selbst mehr zuzutrauen, stellt man es lieber vor dem Rest der Klasse bloß. 

Meine Erinnerungen an die Schulzeit sind jedenfalls keine so schönen: Ich habe mitten während der Abitur-Vorbereitungen Hals über Kopf alles hingeworfen, weil meine Leistungen in Mathe unterirdisch waren. 

Ich hatte Angst vor meinem Mathe-Lehrer und mir war morgens oft so schlecht, dass ich zuhause geblieben bin. Natürlich ist es nicht die Schuld der Schule oder eines einzelnen Lehrers, dass mir alles zu viel wurde und ich mich selbst nicht wiedererkannte. Trotzdem glaube ich, dass das Schulsystem eine Rolle dabei spielt, dass manche an den Rand gedrängt werden, weil sie eben nicht wie alle anderen sind.“


Quelle: Lea Sander & Timon Royer            

Wie äußert sich deine Schüchternheit bei dir?

„Ich bekomme nach wie vor die typischen ,hektischen Flecken‘ am Dekolleté, wenn ich vor mehreren Personen reden soll und ich rede dann so furchtbar schnell, als gäbe es dafür olympisches Gold. Viele Dinge, die ich früher im Alltag kaum bewältigen konnte, musste ich immer und immer wieder üben: Menschen freundlich anlächeln, von allein auf sie zugehen und Hallo sagen, mich und meine Arbeit vorstellen, Telefonanrufe erledigen und meinen Stundensatz verhandeln. Das sind so die Sachen, die wirklich unangenehm werden können, wenn man sie nicht übt und vor seiner Angst wegläuft. Noch dazu, wenn man als Freelancer unterwegs ist und keine Kollegen hat, die man vorschicken kann. Pech gehabt. 

Was aber ganz gut ist an meiner Schüchternheit: Ich lache viel. Ich halte mich dann zwar für ein albernes Huhn, aber andere scheinen es sympathisch zu finden, also mache ich mir nichts weiter daraus.“

„Als ich meinen Mann kennengelernt habe, verstand ich, dass ich mich nicht verstellen muss, um geliebt zu werden.“ 

Wann und wie hast du die Schüchternheit als ein Teil von dir akzeptiert?

„Mittlerweile merkt man sie mir gar nicht mehr so sehr an, weil ich wesentlich selbstsicherer geworden bin und akzeptiert habe, dass es total in Ordnung ist, nicht im Mittelpunkt stehen zu wollen und gern hinter den Kulissen vor sich hinzupuzzeln. Mir ging es wesentlich besser, als ich meinen Mann kennengelernt habe und verstand, dass ich mich nicht verstellen muss, um geliebt zu werden. Auch das Bloggen war eine gute Hilfe für mich: Durch Vanilla Mind war es mir möglich, mich einer bestimmten Personengruppe mitzuteilen.

In den Blog-Kommentaren und vielen persönlichen E-Mails haben mir meine Leserinnen ihre Dankbarkeit für meine Artikel ausgesprochen. Das sind so die Momente, in denen man merkt, was man alles vom Leben verpasst, wenn man sich immer nur verschließt: zum Beispiel, dass es eine ganze Menge Menschen da draußen gibt, denen es ganz genauso geht – und für die man wertvoll ist, weil man etwas ausspricht, das ihnen schwerfällt. Das ist generell ein Problem für viele Schüchterne: Weil sie wenig mit anderen reden, stecken sie in ihren eigenen Köpfen fest und glauben, dass die ganze Welt sie genauso kritisch beurteilt wie sie sich selbst.“ 

„Eine Niederlage oder ein Rückschlag ist niemals final, sondern lediglich ein Schritt zum nächsten Level.“

Hast du dir je gewünscht, nicht schüchtern zu sein?

„In den letzten Jahren andauernd! Jetzt, wo ich straff auf die 30 zugehe, glücklicherweise nicht mehr. Das ganze Leben ist ein Lernprozess und jeder findet irgendwann – hoffentlich – seinen eigenen Weg, er selbst zu sein und seine Stärken einzusetzen. Wichtig ist, eine Niederlage oder einen Rückschlag niemals als final anzusehen, sondern lediglich als Schritt zum nächsten Level. Gerade die vermeintlichen Niederlagen sind große Chancen: Innerhalb weniger Augenblicke lernt man Lektionen fürs Leben und ist beim nächsten Mal stärker. 

Ich habe vor einiger Zeit aus Versehen eine E-Mail mit harscher Kritik versendet, die eigentlich nur für interne Zwecke gedacht war. Der Empfänger war natürlich tief verletzt – und ich für eine Woche vor lauter Scham nicht mehr zu gebrauchen! Die Angst vor so einem Fauxpas ist der Grund, warum Schüchterne sich oftmals nicht aus ihrem Schneckenhaus trauen. Aber in dem Moment musste ich einsehen: ,Okay, das Kind ist in den Brunnen gefallen und du kannst nichts zurücknehmen.‘ Da hilft nur von Herzen um Entschuldigung bitten und weitermachen. Natürlich kann mir so etwas wieder passieren, ich bin ja nicht perfekt. Letztlich war es eine gute Erfahrung, weil ich meinen Perfektionismus über Bord werfen musste.“

Du beschreibst dich selbst als schüchtern, introvertiert und hochsensibel – wie ist es dir denn da gelungen, dein Buchprojekt anzugehen, das dir mit Sicherheit ganz viel Nervenkitzel beschert hat? 

„Augen zu und durch! Klingt wie eine Floskel, ist aber teils tatsächlich so gewesen. Ich musste jeden Tag minutiös zusehen, dass ich meine Ängste unter Kontrolle bekomme und mir von ihnen nicht die Lust auf dieses einzigartige Projekt verderben lasse. Eine Frage, die mir oft hilft, wenn ich vor Entscheidungen stehe, lautet: ,Was würdest du tun, wenn du keine Angst hättest?‘

Ich wusste einfach, es würde mir Freude machen, dieses Buch zu schreiben. Schreiben an sich ist eine Tätigkeit, die innerhalb meiner Komfortzone liegt und der Verlag hat mir unheimlich viele Freiheiten gegeben, wie zum Beispiel auch das Cover selbst zu entwerfen. Klar, der unangenehmere Teil – Öffentlichkeitsarbeit und die Tatsache, dass tausende von Menschen meine Gefühle lesen können, ohne dass ich je etwas davon zurücknehmen könnte, hat mich natürlich schon in Panik versetzt.“

Quelle: Melina Royer

„Nur wenn diese Gedanken ans Tageslicht kommen und ausgesprochen werden, kann ein Realitätsabgleich stattfinden.“ 

Thema Selbstzweifel und Selbstkritik – Was kann man der inneren Stimme entgegnen, damit sie endlich Ruhe gibt?

„#1 Vorhin klang es schon kurz an, aber ich muss es noch einmal betonen, weil es so wichtig ist: Lernen, über die eigenen Gefühle und die eigene Wahrnehmung zu sprechen. Manchmal kam mir meine eigene Gedankenwelt so düster vor, dass ich mich nicht einmal meinem Mann anvertrauen wollte – fataler Fehler! Nur wenn diese Gedanken ans Tageslicht kommen und ausgesprochen werden, kann ein Realitätsabgleich stattfinden. Ein Freund kann dabei helfen, negative Gedanken ins richtige Verhältnis zu setzen und in neun von zehn Fällen stellt sich dann heraus, dass andere einen viel positiver wahrnehmen als man selbst. Man könnte zum Beispiel fragen: ,Wie wirke ich auf dich? Komme ich wirklich so rüber? Wie denkst du darüber?‘

#2 Gegen das negative Gedankenkarussell und die ständige Selbstkritik helfen auch positive Selbstbekräftigungen, auch Affirmationen genannt. Wenn ich schlecht über mich denke, dann bestimmt das jeden Tag aufs Neue meine Realität. Mit Affirmationen mache ich genau das Gegenteil. Sie könnte zum Beispiel lauten: ,Ich bin stark genug, um an dieser Erfahrung zu wachsen‘. Ich kann meinem Unterbewusstsein mit der Zeit beibringen, den Fokus auf positive Ereignisse zu lenken und in Stresssituationen entspannter zu reagieren. Dabei wird eine neue neuronale Verbindung im Gehirn geknüpft, die man sich wie einen Trampelpfad vorstellen kann: je öfter man ihn benutzt, desto breiter wird er. Dafür braucht man Geduld und Disziplin, deshalb verwende ich als Hilfsmittel jeden Tag das 6-Minuten-Tagebuch: Es vereint viele Elemente aus der positiven Psychologie und hilft nachweislich dabei, ausgeglichener und zufriedener mit sich selbst zu sein. 

#3 Sport für mehr mentale Stärke. Sport ist einfach ein Allrounder! Viele begrenzen den Nutzen von Bewegung und Fitness auf Äußerlichkeiten, aber Sport kann so viel mehr: Man lernt sich und seinen Körper besser kennen und entwickelt dabei mehr Selbstvertrauen. Jede noch so kleine Aktivität wird mit Wohlbefinden und mehr Energie belohnt. Und dass emotionaler Stress abgebaut wird, wenn man sich draußen mal eben für 30 Minuten durchpusten lässt, ist ebenfalls wissenschaftlich belegt.“

Was hilft dir, im Alltag die Ruhe zu bewahren? 

„Ich führe ein ruhiges Leben, das mir Raum zum Auftanken gibt. Ich lese sehr viel, am liebsten Sach- und Fachbücher, oder ich versuche mich an DIY-Projekten. Aktuell versuche ich mich am Handlettering-Trend und bin so im Flow, dass ich beinahe wöchentlich neue Stifte einkaufe. Langsame Tätigkeiten, die viel Konzentration erfordern, erden mich und lassen mich für kurze Zeit alles um mich herum vergessen. Das ist wichtig, um das Gehirn sozusagen neu zu ,kalibrieren‘ und aus seinem Gedankenkarussell herauszukommen. 

Und ich bewege mit täglich. Wenn das Wetter zum Laufen zu schlecht ist, dann mache ich eben eine halbe Stunde Pilates. Aber ich versuche wirklich in jeden Tag Bewegung einzubauen, um mich zu entspannen.

Außerdem liebe ich mein Bett – ich schlafe gerne und viel. Das gleicht mich aus, gerade an Tagen, an denen ich viel unterwegs war und einiges zu verarbeiten habe. Da bin ich auch wenig kompromissbereit und lege Termine extra so, dass sie nach 11 Uhr stattfinden. Ohne ausreichend Schlaf bin ich schneller gereizt, fühle mich schwach und verliere mein Selbstvertrauen.“

Wenn du dein Buch und die Inhalte auf deinem Blog in einem Satz zusammenfassen müsstest – Welche Botschaft willst du deinen Lesern vermitteln? 

„Du kannst viel mehr als du glaubst, wenn du nur mutig zu dir selbst stehst.“

Wenn ihr mehr über Melinas Geschichte erfahren wollt, könnt ihr hier ihr Buch „Verstecken gilt nicht: Wie man als Schüchterner die Welt erobert“ kaufen. 

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