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Was passiert mit der Welt nach den Anschlägen in Europa?

Nach den Anschlägen von Paris sollten wir uns fragen, wie wir kulturelle und religiöse Barrieren friedlich lösen können – oder sie erst gar nicht entstehen lassen.

 

Vorurteile nach 9/11

Nach dem 11. September 2001 waren alle Muslime potenzielle Attentäter. Zu der Zeit war ich in der sechsten Klasse, also war ich zwölf Jahre alt. Meine Geschwister waren fast alle jünger als ich, außer mein großer Bruder, der ein Jahr älter ist als ich. Wir waren also unerfahrene Migranten (damals war der Ausdruck „Deutsche mit Migrationshintergrund“ noch nicht etabliert), die vor dem Jugoslawienkrieg geflohen sind. Als wir einen Tag nach dem Anschlag zur Bushaltestelle gingen, wurden wir direkt abgefangen, mit Fragen wie „Ihr seid doch auch Muslime, oder?“, „Seid ihr auch solche Islamisten?“, „Würdet ihr auch so etwas machen?“. Das war, nachdem wir mit unserer ganzen Familie geschockt die Bilder aus New York im Fernsehen verfolgt und um die Opfer geweint hatten und auch für uns die Welt wieder etwas an Glanz verloren hatte.

Gerade wir, die vor dem Krieg Geflüchteten, mussten uns solche vorwurfsvollen, unverschämten Fragen anhören und diese grundlosen Vorurteile ertragen.

Die Zeit danach war unerträglich. Wir mussten diskutieren und uns rechtfertigen, ohne Grund und ohne dabei überhaupt zu Wort zu kommen. Wir waren „angeklagt“ für Gräueltaten, die andere begangen haben, zu denen wir keinerlei Verbindung und auch keinen logisch nachvollziehbaren Zugang hatten. Bist du A oder B? Bist du die anderen oder gehörst du zu uns? Assimilation statt Integration. Das ist aber wieder ein anderes Thema.

Nicht einmal 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, den Erschütterungen der Humanität, die bis heute dieser Welt einen grauen Schleier übers Gesicht ziehen, hatte die Welt nun einen neuen Feind: den Islam und genauer, die Muslime.

Seit Freitag, den 13. November 2015, scheint sich die Situation für Europa zuzuspitzen, der Terror des IS scheint sich in Europa auszubreiten. Jetzt scheint der Terror tatsächlich Realität geworden zu sein, denn davor bestand er vor allem aus Bildern im Fernsehen, aus Zahlen und „Fakten“ auf Papier. Doch jetzt sind es Menschen, die durch den Terror sterben. Europäer. Der Terror hat ein Gesicht, einen Namen. Das Böse ist nicht länger in der Wüste unterwegs, sondern über Grenzen gelaufen und vor unserer Haustür erschienen. Schon wieder der Islam.

Was war in der Welt los, vor dem 13.11.?

Ein kurzer Rückblick, was in Europa passiert ist, bevor das Böse bei uns ankam: An den Grenzen wurden Flüchtlinge verfolgt; an den Grenzen wurden Zäune gebaut; Politiker und andere Menschen haben gegen wehrlose und zum größten Teil unschuldige Geflohene Hetze betrieben; im Meer sind hilflose Menschen (egal welchen Alters und Geschlechts) ertrunken, andere sind erfroren, verhungert; besorgte Wutbürger, die Angst haben vor Diebstahl, Verlust ihres Arbeitsplatzes und Vergewaltigung ihrer Frauen, versuchen, diese durch Feuer zu beschützen. Flüchtlingsheime wurden angezündet, Hakenkreuze an Wände geschmiert, Propaganda im Internet betrieben, Flüchtlinge angegriffen. Die wussten genau, warum sie das taten. Sie wollten genau das verhindern, was in Frankreich passiert ist. Die haben nämlich nicht aufgepasst. Das nennen sie in der Fachsprache „Selbstjustiz“. Können wir das so nennen? Wovor haben sie sich beschützt? Vor Menschen, die davor geflohen sind, von Bomben zerfetzt zu werden oder geköpft irgendwo zu hängen? Vor Menschen, die ihre Heimat verlassen haben, ihre geliebte Familie zurücklassen mussten, deren Freunde im Meer ertrunken sind, deren Kinder halb verhungert und traumatisiert nun in Notunterkünften auf ein sicheres Leben warten?

Gestern war ich beim Friseur. Ich wollte unbedingt einen Kurzhaarschnitt haben. Den habe ich mir mal gegönnt, obwohl ich als Studentin jeden Monat aufs Neue überlegen muss, wie ich meine Miete und bis zum Ende des Monats mein Essen bezahle. Danach wollte ich mit einer meiner Freundinnen einen Kaffee trinken. Eine banale und ziemlich alltägliche, fast schon langweilige Geschichte. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass ich leicht gebräunt bin, dunkle Haare und Augen habe, also südländisch aussehe. Wir stehen also draußen und rauchen in Ruhe. Da kommt ein alter Mann, ein Opi, wie ich es immer gerne liebevoll sage, auf seinem Fahrrad an uns vorbeigefahren und sagt „Immer diese Kanaken!“ und guckt mich angewidert an. Mein Herz wollte in diesem Moment aufhören zu schlagen, so eine Ohnmacht habe ich gefühlt. Ich fühlte mich wieder wie zu der Zeit, in der wir uns, teilweise auch von unseren Lehrern, folgende Sätze anhören durften: „Ach, da kommen ja die Flüchtlingskinder!“, von Mitschülern: „Na Kanake. Geh doch am besten dahin zurück, wo du hergekommen bist!“. Und: „Heil Hitler!“, mit Hitlergruß. Mein Bruder wurde mehrmals, vor der Haustür, von rassistischen Typen verprügelt. Bei dem einen Mal war er vielleicht in der vierten oder fünften Klasse, bei dem anderen Mal in der achten. Und jetzt stehe ich da, als erwachsene Frau, und fühle mich wie zwölf.

Ich habe eine Familie, die ich, wie wahrscheinlich jeder andere auch, über alles liebe. Nach den Anschlägen in Paris ist mir die ganze Zeit durch den Kopf gegangen, wie sich denn jetzt die Situation hinsichtlich rassistischer Stimmung und Angriffe entwickeln wird. Und plötzlich fährt dieser Opa an mir vorbei und nennt mich Kanake. Ich war nicht wütend auf den alten Mann. Ich war betrübt, enttäuscht und gelähmt. Ich habe mir einen Platz vorgestellt, an dem keine Menschen leben. Friedlich und ohne Vorurteile. Denn die Natur verurteilt niemanden, die Tiere stigmatisieren niemanden. Sie essen nur so lange, bis sie satt sind. Danach genießen sie das Leben. 

Ganz einfach: Weil es falsch ist.

Alle stürzen sich bestürzt auf den islamistischen Terror, der, wie in meinem früheren Text schon geschrieben, sich auf den Islam beruft, da ihm sonst jegliches Fundament fehlt, um noch mehr Menschen für ihre barbarischen Taten zu rekrutieren. Und trotz ihrer furchtbaren Taten, die nicht zu rechtfertigen sind, stelle ich folgende Fragen:

Warum ist eine Tat mit rassistischem, also menschenfeindlichem Gedankengut, weniger Terror, als das, was in Frankreich passiert ist? Warum hat keiner beim Neonazi-Trio, die in Deutschland ungehindert gemordet haben, geschrien: „Das sind die Deutschen!“, „Das sind die Christen!“? Ganz einfach, weil es falsch ist, oder vielleicht doch, weil sich die christlichen Europäer als selbstverständlich und friedlich sehen? Aber bei einer „fremden Kultur scheint es sich für einige Menschen richtig anzufühlen, sie alle zu meinen, wenn ein paar sich unzivilisiert verhalten. Rassismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.

Ich weiß nicht, wie wir es schaffen können, die Menschen, die verständlicherweise in Angst und Aufruhr sind, davon zu überzeugen, dass dieses Schubladendenken an das Mittelalter erinnert. Wir sind nicht alle gleich gestrickt. Wer Hass erntet, wird Hass säen. Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg auch keinem andern zu. Wir müssen über diese Dinge diskutieren, uns zusammensetzen, unsere Kinder aufklären. Jede nur erdenkliche Institution steht jetzt in der Verantwortung, Frieden zu stiften, sich explizit für und nicht gegen die Menschen zu äußern. Wir müssen den Frieden mit unseren Nachbarn, unserem Bäcker, den Lehrern, im Sportverein, auf Partys und in unseren Familien lehren und wahrnehmen. Nur Menschen, die Frieden lernen, können friedlich leben. Die, die Hass über die Welt bringen, haben diesen mit Sicherheit auch selbst erlebt, denn keiner wird so hasserfüllt geboren.

Diese Welt gehört niemandem. Wir kommen ohne jegliche Materialität und werden auch genau so wieder gehen. Das Einzige, was von uns bleiben sollte, ist Frieden.

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