Foto: Tanja Misiak

10 Tage absolute Stille – was ich während eines Meditationskurses über mich gelernt habe

Bloß nichts verpassen, hinterherlaufen, organisieren, jonglieren…Und dann mal etwas ganz anderes, das gefühlt noch weiter weg ist als die kleinste Insel im Pazifik: zehn Tage Stille in einem Meditationskurs. Ein Erfahrungsbericht.

Zehn Tage lang nichts machen

Immer wieder fragen mich Menschen aus dem Familien- und Freundeskreis neugierig, was ich denn so mache, wenn ich weggehe, um „nichts“ zu machen. So bezeichnen andere meinen zehntägigen Meditationskurs.

Eine Freundin fragte mich nach dem Kurs, ob ich wieder gut in der Realität angekommen sei. Ist klar, wie das gemeint war. Aber dennoch: Ich fühle nach dem Kurs erst einmal, wie stark ich mitten im Alltagsgewusel mit den vielen Aufgaben und Verantwortungen abgelenkt bin von mir und meiner eigentlichen Realität. Es ist meine tägliche Herausforderung, mir selbst zuzuhören, so wie alles ist, wie die Dinge sind. Nichts zu überspielen, zu verschönern, zu negativ zu sehen, keine Dramen zu konstruieren, sich Dinge einzugestehen, die ich jetzt gerade nicht wahrhaben will, oder sich auch mal zu freuen und dies voll und ganz zu genießen. Im Alltag mit seinen Ablenkungen bin ich daher oft viel weiter weg von meinem eigentlichen Leben als im Kurs, in dem ich mich voll auf meine Realität konzentrieren kann – ganz ohne Ablenkung.

Vipassana

Vipassana ist eine uralte Meditationstechnik, die ursprünglich in dieser reinen Form von Buddha praktiziert und gelehrt wurde. In Indien ist die Technik verloren gegangen, in Burma wurde sie aber weitergetragen und kam dann auch wieder nach Indien zurück. Es gibt zahlreiche Abwandlungen und Varianten. Ein indischer Gelehrter unserer Zeit, S.N.Goenka, vor gut zwei Jahren erst gestorben, hat die Technik seit den 1960ern so aufgearbeitet, dass sie von Menschen aller Kulturen und Religionen erlernt werden kann.

Die Technik ist unabhängig von Religionszugehörigkeit  erlernbar und explizit ist niemand aufgefordert, ein Buddhist zu werden oder sonst was. Es geht hier um das Naturgesetz: Jeder Mensch hat einen Körper, Empfindungen, Gefühle, Gedanken, jeder Mensch hat die  Fähigkeit, sich zu konzentrieren und sich konzentriert selbst zu beobachten. Mehr braucht es nicht, um richtig zu meditieren.

Organisatorisches

Während des Kurses sind die Schüler aufgefordert, nicht untereinander zu kommunizieren. Weder mit der Stimme noch mit Blicken, Körperkontakt oder Gebärden. Handys, Schreibutensilien und dergleichen sollen abgegeben werden. Jede Art von Ablenkung weg vom eigenen Innenleben ist bis aufs Mindeste reduziert. Essen steht zu festen Zeiten zur Verfügung. Bei Problemen soll man sich ausschließlich an die Lehrer oder die Kursorganisatorin wenden. Das klingt vielleicht befremdlich, ist aber ein großes Geschenk, denn in der normalen Welt ist es unmöglich, sich so stark ohne Ablenkung und jegliche Verpflichtung auf das Innere konzentrieren zu können.

Die Kurse finanzieren sich komplett aus Spenden. Auch ich spende mit dem Wissen, dass ich damit dabei helfe, dass sich die Zentren finanzieren und die Kurse stattfinden können. Die Spenden reichen aus, um die Kurse zu finanzieren, alte Zentren zu renovieren und neue aufzubauen. Die Küche und alles Organisatorische ermöglichen ehrenamtliche Helfer, die selbst an Kursen teilgenommen haben und nun ihren Beitrag leisten möchten, dass andere ebenfalls diese Erfahrungen machen können.

Meditationsblöcke sind am Tag zwischen 4.30 und 21 Uhr verteilt, sie dauern jeweils ein bis zwei Stunden. Es gibt zwei größere „Pausen“ nach dem Frühstück um sieben und nach dem Mittagessen um 11.30 Uhr. Insgesamt kommt man auf über zehn Stunden reine Meditation am Tag. Abends um 19 Uhr gibt es Vorträge vom Tonband in der Muttersprache, die, so weit es geht, das Erlebte einigermaßen erklären, teils mit Geschichten und Bildern, teils auch sehr konkret und naturwissenschaftlich erläutert.

Der Kurs

Die ersten drei Tage üben wir unsere Konzentration. Wir sollen uns auf den Atem konzentrieren. Das fällt mir am Anfang für auch nur eine Minute am Stück schwer. Doch wenn ich nichts anderes mache am Tag als zu üben, dann verbessere ich mich sehr schnell. Ich werde so sensibel, dass der Atem nicht mehr nur Atem bleibt, sondern ich die Temperaturunterschiede wahrnehme zwischen dem eintreffenden und dem herauskommenden Atem, wie er die Haut unter der Nase und in der Nase kitzelt, Härchen in der Nase wackeln… Gedanken kommen immer, doch die Aufgabe ist, sich nicht von ihnen mitreißen zu lassen. Mir passiert das am Anfang oft. Und dann fällt es mir auch oft erst später auf, dass ich gegrübelt habe, statt mich auf den Atem zu konzentrieren. Doch auch hier werde ich immer besser.

Nach dem dritten Tag ist meine Konzentrationsfähigkeit sehr hoch. Die eigentliche Meditation beginnt. Entspannung und Konzentration ist Voraussetzung für eine gute Meditation, sie sind nur Mittel, nicht Sinn und Zweck. Wir gehen mit der hohen Konzentration unseren Körper durch, von oben nach unten und zurück. Wir achten dabei auf jede Empfindung, jede! Und das ist die Schwierigkeit. Denn genau so, wie es angenehme und unangenehme Gedanken gibt, an denen ich festhalte oder die ich loswerden will, gibt es angenehme und unangenehme Empfindungen. Manche Körperstellen spüre ich viel intensiver als andere, manche scheinen fast taub zu sein, manche kribbeln, manche kitzeln, hier tut es weh, dort fühlt es sich schön an, es gibt rechts- und linksseitige Unterschiede, et cetera. Ich will, dass sich der ganze Körper gut anfühlt, überspringe die „tauben“ Stellen oder ärgere mich über ein ungleichmäßiges Gefühl oder oder. Doch ich soll akzeptieren, wie die Realität ist. Ich übe mich im Gleichmut (nicht in Gleichgültigkeit!).

Es geht ums Zuhören auf allen Ebenen: körperlich und emotional. Ich erfahre direkt das Zusammenspiel von Körper und Geist.

Ich mache alles durch. Ich begebe mich auf eine Reise in mein Inneres, auf der ich mich immer wieder daran erinnern muss, die Realität zu sehen, wie sie ist. Und sie nicht so zu drehen, wie ich sie gerne hätte. Mir fällt auf, wie oft ich dazu neige, die Realität zu ignorieren und mich mit Grübeln über Vergangenes oder Zukünftiges abzulenken. Und mich dann wieder zu erinnern, was die Übung ist, nämlich ganz bei mir zu bleiben – wie ich bin im Hier und Jetzt. Die Tonband-Anleitungen am Anfang der Meditationsstunden begleiten mich und sie passen gut zu meinem eigenen Tempo. Oft ist sie nur „Gehe durch deinen Körper, von Kopf bis Fuß, und achte drauf, dass du über nichts hinweg gehst.“ Das reicht schon. Die Anleitungen lassen nicht erahnen, dass ich dabei durch so manche Achterbahn sause und ich größte Mühe habe, nicht aus der Bahn geworfen zu werden. Immer bei mir zu bleiben und mich nicht wegreißen zu lassen von selbst gestrickten Ablenkungen. Und Projektionen nach außen. Denn es ist hier noch viel klarer als im Alltag, dass es an mir liegt, ob der Himmel gerade schön aussieht oder meine Sitznachbarin nervt.

Ich werde immer und unmittelbar direkt auf mich selbst zurück geworfen.

Körperliche Phänomene beobachte ich langsam immer besser mit einer gleichmütigen Distanz. So fängt mein Herz auf einmal an, ganz fest zu schlagen, oder mein Atem wird schnell, oder mir wird heiß oder kalt. Ich beobachte. Auch die Gefühle kommen und gehen: Ängste, Hoffnungen, Freude, Trauer, Ungeduld, Stress… Wenn ich das mit Gleichmut beobachte und mich nicht mehr davon und von jeweils verknüpften konkreten Gedanken mitreißen lassen, dann erkenne ich die Vergänglichkeit von allem. Und zwar nicht nur intellektuell. Sondern wirklich tief auf der Erfahrungsebene, auf der der Verstand teils längst nicht imstande ist mitzukommen. Ab einem gewissen Punkt kann ich das nicht mehr nur mit dem Verstand erfassen geschweige denn erklären. Alles kommt und geht wieder.

Ich bin im Moment und beobachte das Schöpfen des Universums in mir.

Das mag vielleicht anstrengend klingen, doch die Mühe lohnt sich. Und eigentlich ist es auch nicht anstrengend. Denn zu viel Anstrengung kann nicht gut sein für die Meditation, in der ich mit Gleichmut alles beobachte, was passiert. Und einfach alles akzeptiere. Die Anstrengung muss beobachtet werden und geht mit genügend Gleichmut irgendwann auch wieder. Nach ein paar Achterbahnfahrten merken ich eine Veränderung in mir. Ich fühle mich irgendwie leichter. Ich spüre meinen ganzen Körper gleichmäßig bis hin zu einer fast völligen Auflösung. Die Abläufe scheinen sich auf der einen Seite rasant zu beschleunigen, ich merke die kleinsten Empfindungen, wie sie kommen und gehen, Gedanken, Gefühle, Empfindungen, alles verändert sich mit jedem Moment. Ich erkenne meine eigenen Muster, die durch das Erkennen schwächer werden, ihre Kraft verlieren und meine unbewussten Reaktionen verändern. Das, die Muster, mit denen ich mich vorher (unbewusst) identifiziert habe, lösen sich durch das Erkennen auf oder verändern sich. Ich erkenne auch, dass jedes nicht-akzeptieren der Realität eine Art Leiden ist, denn ich kämpfe gegen die Natur. Ein volles Akzeptieren befreit mich von diesem Leiden. Alles ist in schneller Bewegung, während ich – oder was ist da noch ich? Der Beobachter oder das Beobachtete? – während es mich atmet, während alles vibriert und das Universum einfach schwingt. Es ist die Begegnung mit dem reinen Geist, wie er frei ist von Gewohnheits- und Identifikationsmustern. Und die reine – in völligem Gleichmut – Beobachtung des Zusammenspiels von Geist und Materie.

Ich bin voll und komplett im Moment, und erfahre im Moment die Ewigkeit. Das Zeitgefühl ist völlig anders. Es ist totale Präsenz.

Dann gongt es. Essenszeit. Ich stehe auf und gehe was essen. Doch ich fühle mich anders. Absolut präsent, und irgendwie leicht. Ich esse anders, auch absolut präsent. Ich merke, wie ich mir das Essen aussuche, spüre die Energie, die es für mich bereit hält, merke wie es warm oder kalt in meinen Magen rutscht und dort verarbeitet wird. Bin dankbar für die neue Energie, die es mir gibt. Ich bin mitten im Leben, mitten in der Realität, und erfahre eine unsagbare Tiefe, die im Alltag so oft unterzugehen scheint.

Und generell bin ich dankbar. Solche zehn Tage sind für mich ein großes Geschenk: Diese Kurse mit Anleitungen, die aus uralten Überlieferungen stammen und völlig ungefärbt sind von religiösen oder politischen Motiven. Die es mir ermöglichen, mich kennenzulernen und in eine Präsenz zu kommen, die eigentlich jeder Mensch erfahren kann. Die zutiefst menschlich sind, und im Alltag doch so schwer zu erleben durch die Ablenkungen, die einfach da sind.

Das „Funktionieren“ im Alltag ist oft nur ein Abspielen von Gewohnheitsmustern – guten und schlechten – von denen ich denke, dass sie einfach zu mir gehören, über die ich mich identifiziere. Doch sie lenken mich von der eigenen Realität ab. Ich lerne, dass fast alles doch „nur Muster“ sind.

Als zweifache Mutter mit kleinen Kindern habe ich oft nicht die Zeit gefunden zu reflektieren. Doch ich weiß, den meisten geht es so und sind überrascht, was sie alles in sich finden. Öfters wird im Kurs während der Fragestunde gefragt, ob es Gott gibt, oder Wiedergeburt, oder Erleuchtung, et cetera. Darauf werden nie Antworten gegeben, außer dass man sich in der Meditation üben soll und selbst erfahren soll, was die eigenen Antworten sind. Es wird empfohlen, dass man täglich morgens und abends eine Stunde meditiert und einmal im Jahr einen Kurs „sitzt“.

Studien

Die Technik gibt die Freiheit, von der schon alte und weise (auch westliche) Philosophen gesprochen haben („Erkenne Dich selbst“, „Alles fließt“). Man kann zunehmend frei entscheiden, wie man reagieren will und ist immer weniger beeinflusst von den eigenen Mustern, die vorrangig bestimmt haben, wie man in Situationen reagiert. Die eigene Identifikation ändert sich. Das ist die Essenz des Menschseins und der große Unterschied zu Tieren. Sie können sich nicht selbst beobachten und ihre unbewussten Reaktionsmuster verändern. Menschen können sich durch ihre Beobachtungsgabe erkennen, mit ihrem Unbewussten arbeiten und sich wesentlich verändern. Es gibt zahlreiche Studien, die die Auswirkungen von Meditation und auch speziell von Vipassana auf die psychische und physische Gesundheit erforscht haben. Meine eigenen Erfahrungen, dass ich mich nach einem Kurs psychisch und auch physisch „leichter“ fühle, spiegeln sich da wider – und auch das explosive Wachstum des Angebots an Kursen weltweit. Stress wird reduziert, (vor allem psychosomatische) Krankheiten geheilt, Menschen werden glücklicher, zufriedener, freier. Die Vipassana-Technik wurde auch in westliche Achtsamkeitstechniken von Psychologen und Coaches übernommen, wie zum Beispiel Mindful Based Stress Reduction. In dieser „Welle“ werden auch zunehmend Vipassana-Kurse für Führungskräfte aus Politik und Wirtschaft angeboten oder zum Beispiel auch in Gefängnissen für Sträflinge. In Triebel wird jetzt ein Zentrum gebaut für blinde Menschen, und auch für Kinder ab acht gibt es dreitägige Kurse in angepasster Form mit Spielen zwischendurch.

Natürlich gibt es auch Kritik, wie das mit allem so ist, was sich mit nicht-Messbarem beschäftigt. Aber die Kritiken stammen am ehesten von Menschen, die sich selbst nicht ernsthaft mit der Technik auseinandergesetzt haben und auf der rein intellektuellen und materiellen Ebene die Welt erklären (messen) möchten. Die Wissenschaft muss noch viele Instrumente bauen, bis wir hier weiter sind. Hirnforscher weisen nach, dass bestimmte Hirnbereiche bei der Meditation besonders aktiv sind, aber dies ist nur die materielle Ebene. Bei der Meditation erfährt man, das materielle/körperliche Prozesse auch geistige Prozesse mit sich bringen und anders herum. Es sollte immer ganzheitlich betrachtet werden. Nur das eine oder nur das andere ist nie die ganze Realität.

Fazit

Ich kann für mich sagen, dass mir die Meditation und vor allem ein mehrtägiger Kurs sehr gut tun und ich bei dieser Technik auch bleibe, weil sie für mich in völlig reiner Form das erlebbar macht, was so besonders ist: Mensch sein und Teil sein eines großen Wunders, der Natur und des Universums und dem, was für jeden auf seine eigene Weise dazugehört. Ich merke, dass ich mich immer besser „auf mein Gefühl“ verlassen kann. So habe ich beispielsweise wirklich Lust auf gesunde Ernährung und halte mich fern von Ungesundem, zum Beispiel zu industriell hergestellten Nahrungsmitteln. Aber auch jenseits von Ernährung gibt es gesunde und weniger gesunde Entscheidungen, die ich jeweils unterschiedlich treffe, je nach dem wie sehr ich „bei mir“ bin und aus welcher Tiefe und Präsenz heraus ich sie treffe. Die Intuition verbessert sich. In der Stille kann ich die meisten und auch wichtigsten Antworten für mich finden.

Das sind also meine Erfahrungen und jeder würde das sicher ein wenig anders darstellen. Für Fragen stehe ich gerne zur Verfügung. Doch reicht es nie, sich nur auf der Verstandesebene mit Meditation zu beschäftigen. Es bringt ja auch nicht viel, wenn jemand sämtliche Theorien zum Schwimmen auswendig lernt. Man muss ins Wasser steigen und das Schwimmen durch Erfahrung lernen, anders kann man es nicht erlernen.

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