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Meine Schwester ist tot – Wie es Familien geht, in denen plötzlich jemand fehlt

Der Tod meiner Schwester hat unsere Familie vor eine unüberwindbare Mauer der Trauer gestellt. Ich will endlich wieder versuchen zu leben.

Ein Verlust, der schmerzt

Am 5. März wäre meine Schwester 33 Jahre alt geworden.

Immer dann, wenn meine Familie wieder an ihre Grenzen stößt, immer, wenn man sich nur noch anschreit und sich nichts mehr zu sagen hat, weiß ich, dass es nicht an mir liegt. Dass ich nicht Schuld daran habe. Denn ich lebe – und das ist der Unterschied. Es liegt daran, dass damals etwas passierte, das uns alle bis heute noch sprachlos und wütend zurücklässt.

In meiner Familie wurde vor vielen Jahren ein Kind zur Halbwaise, ein Geschwisterkind zum Einzelkind, eine Großmutter zur Ersatz-Mutter, ein Großvater zum Ersatz-Vater, ein Ehemann zum Witwer.

Ich sage es ganz offen: Nach dem Verlust einer geliebten Schwester, Tochter und Mutter wird es immer schwierig bleiben. Es wird stets versucht, den Zusammenhalt in der Familie nach außen aufrecht zu erhalten, mit aller Kraft. Doch manchmal will und wird das einfach nicht gelingen.

Die Trauer ist allgegenwärtig

Erst vor wenigen Jahren bin ich zu dieser Person mit einem „Knacks” geworden. Seither suche ich unaufhörlich einen Ort, an dem ich die Trauer nicht ertragen muss. Dass mein Selbstbewusstsein einen „Knacks” erlitten hat, nachdem sie uns verlassen hatte, das ist mir klar. Der kluge Roger Willemsen hatte mich auf den Begriff „Knacks” aufmerksam gemacht. Er verlor seinen Vater im Jugendalter und hat diesen Begriff für sich geprägt. Wenn andere von ihren Geschwistern erzählen, dann höre ich genau hin – und bin dann sehr neidisch und traurig zugleich. Eine solche Wunde schließt sich nicht von allein, auch nicht nach mittlerweile fünfeinhalb Jahren. Eine Wunde bleibt offen, solange niemand der betroffenen Familienmitglieder, und zwar jeder einzelne, die Trauer nicht überwunden haben wird.

Ich war 23 Jahre alt und hatte noch viele Fragen an das Leben. So ein Verlust wirft einen aus der Bahn und holt einen immer wieder ein. In diesen Momenten braucht man dann viel Kraft. Kraft für die Liebe, Kraft für die Arbeit, Kraft für seine Gesundheit, Kraft zum Genießen der kleinen Freuden des Lebens. Aber schon die Tränen kosten Kraft, verdammt viel Kraft.

Schmerz macht aber auch wütend. Ich habe in den letzen fünf Jahren auch mit professioneller Hilfe versucht gegen all die Wut in meinem Bauch, gegen all die Enttäuschungen und des Irrewerdens anzukämpfen. Habe in manchen Sitzungen noch nicht mal darüber sprechen wollen, so sehr empfand und empfinde ich allein die Erwähnung ihres Namens als ein Risiko, das mir in meinem vermeintlich geordneten Leben ein Bein stellen könnte und das Leben wieder unerträglich macht. An den Ort zurückkehren, das ertrage ich meist nur kurz. Ich muss schon nach wenigen Tagen aus jenem Umfeld fliehen, in dem ich umgeben von Menschen bin, die mir den Spiegel des Schmerzes vorhalten.

Die Trauer erdrückt uns

Jedes Gespräch miteinander ist voller Kummer, voller Vorwürfe an den jeweils anderen. Jede Aussage wird missverstanden. Denn die Trauer kann man nicht teilen, zumindest denke ich das. Geteilte Trauer ist nicht gleich halbe Trauer. Und Erinnerungen haben sowieso kein Haltbarkeitsdatum. Wer, wie ich, in jungen Jahren mit dem Tod konfrontiert ist, der fragt sich, wie nichtig manche Dinge, wie unwichtig oberflächliche Bekanntschaften werden und wie groß die Angst vor der Zukunft ist. Ständig wird man begleitet von dem Gefühl, dass wieder etwas passieren könnte, mit jedem Jahr des Älterwerdens wird es schlimmer.

Alle Momente, die zu einem schönen Leben gehören sind Segen und Fluch zugleich. Man sehnt sich danach, das Glück mit der verstorbenen Person teilen zu können. Umso schmerzhafter ist allein der Gedanke daran, dass man dies nie mehr tun können wird. Viele Jahre habe ich geglaubt, dass es einfach nur darum geht, Dinge mit rasanter Geschwindigkeit emotionslos an einem vorbeiziehen zu lassen. Doch ich merke allmählich, dass ich keine Maschine bin. Ich lebe und das ist der Unterschied.

Das Leben geht aber weiter

Schon seit Langem denke ich darüber nach, die Geschichte meiner Eltern in irgendeiner Art und Weise zu erzählen. Wie schwer es für sie sein muss, wieder Eltern für das Kind meiner Schwester zu sein. Es gibt zwar noch den Vater, doch er hat längst eine neue Familie. Man kann sich vielleicht vorstellen, dass meine Eltern vollkommen überfordert und sich selbst überlassen sind. Doch sie lassen sich gleichzeitig auch nicht helfen. Denn das Versprechen, das Erbe, das sie angetreten haben, es lastet auf ihren Schultern, auf ihrem Gewissen. Vielleicht werde ich eines Tages eine Geschichte über sie schreiben, um ihnen dadurch meinen Respekt zu zollen, meiner Bewunderung Ausdruck zu verleihen.

Doch noch ist das Verhältnis zu meinen Eltern sehr schwierig. Nähe zu jemanden zu suchen, der eigentlich die ganze Zeit nach dem verlorenen Kind sucht, ist eine große Herausforderung. Denn oft übersehen die Eltern den Schmerz des verbliebenen Kindes. Das kann man ihnen noch nicht einmal vorwerfen, denn auch ihnen geht es – genau wie mir – nur um das: irgendwie Ertragen.

Oft wünsche ich mir, dass meine Familie wieder zu dem wird, was ich einmal als Familie kannte. Doch ich weiß, dieser Traum wird unerfüllt bleiben. Aber zumindest habe ich es geschafft,  in den Kampf zu ziehen, um mein altes Ich wiederzufinden. Das Ich, das noch über die unwichtigen und nichtigen Dinge lachen konnte, das sich aber viele Jahre das Lachen nicht erlaubt hatte. Ich kämpfe für jeden einzelnen Moment.

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