Foto: (c) Schwarwel / NIMIRUM.

Das Fußballfeld als Fever Pitch des politischen Populismus

Fußball international: Die Quote der weiblichen Fans steigt sprunghaft an, wenn Nationen gegeneinander kicken. Aber was spielt eigentlich alles mit hinein, wenn sich zweimal elf Herren gegenüber stehen? Anja Mutschler von Nimirum wollte es genauer wissen. Kristian Schulz aus ihrem Experten-Netzwerk hat die Antwort recherchiert: ziemlich viel!

 

Fußball? Das ist weit mehr als nur ein Spiel!

Fußball ist nur ein Spiel. Den Satz hört man oft, wenn der unschuldige Sport vor politischen oder wirtschaftlichen Interessen beschützt werden soll. Ja, man kann dieses Spiel so sehen und einen größeren Teil der Realität dabei ausblenden. Doch schon Kinder wissen heute, dass es oberhalb einer gewissen Liga kein unschuldiges Spiel mehr gibt. Der beliebteste Sport der Welt ist, von namenlosen Kreisligen bis zu internationalen Wettbewerben, schon lange ein Milliarden-Geschäft – und leider auch schon häufig ein Politikum gewesen.

Und während sich jetzt wieder (fast) alle auf das nicht alltägliche Mitfiebern mit den Gladiatoren von heute freuen – auf die Spiele –, bietet diese EM in einem tief zerstrittenen Europa ein Konfliktpotenzial wie selten eine zuvor. War der 2016 schon stärker als sonst politisierte Eurovision Song Contest, mit seinem ukrainisch-russischen Duell, noch ein amüsantes internationales Wettsingen auf Bezirksliga-Niveau, so gehen wir jetzt auf eine weitaus härtere Liga zu, von den Fan-Gesängen über die Leistung der Hauptdarsteller bis zu den Milliarden, die dabei zusehen und die heute weltweit damit gemacht werden.

„Fußballkampf“ nannten das die Kommentatoren noch in den 1950-Jahren. Und leider kann der in gewittrigen politischen Großwetterlagen noch heute, sogar auf dem Platz zum „Fußballkrieg“ werden. Denn die Spiele werden von vielen Menschen noch immer als nationale Leistungsschau gesehen – was dem Sport und vielen in seinem Umfeld aktiven Unternehmen nicht immer gut tut. Das Image eines Landes wird vom Auftreten seiner Nationalelf in nicht geringem Maß geprägt; und in Zeiten einer Renaissance nationaler Identifikationsmuster geht es dabei auch um die Selbstvergewisserung ganzer Länder – wie um deren Vorurteile gegenüber anderen.

Fußball und Wirtschaft: Hier geht’s um jede Menge Geld

Schon über das Geschäft mit Fußball kann man reden wie über jede Branche mit vielen Konsumenten. Etwa so, dass die Umsätze im europäischen Fußball in zehn Jahren von 13,6 auf 20 Milliarden Euro gestiegen sind, dass Fußball ein globaler Wachstumsmarkt ist. Immer wieder wird über Fußball in China geredet, über hoch fliegende Pläne, auch für eine WM in China, und darüber, wie das Land schon etablierte Fußball-Märkte erreicht. Auch Indien ist ein Thema – ebenso wie die USA, das uns erklärt, warum und wie sich etwa Bayern München, der Mercedes-Benz des deutschen Fußballs (von mir aus auch BMW) in den USA derart engagiert.

Es geht um die Ökonomie des Spitzensports in einer globalisierten Welt, weil viele Menschen etwas wollen und deshalb viel Geld dafür ausgeben – für Tickets und TV, Catering und Merchandising. Und viele Menschen wollen Fußball! Darum konkurrieren im Sponsoring Sportartikel-Hersteller um die besten Mannschaften, die Fernsehsender um die besten Plätze und Rechte und viele andere um ein Stück vom Blick auf den Rasen. Und natürlich sind wissenschaftliche und wirtschaftliche Expertise in diesem Feld auch kein ganz neues Thema mehr.

Bei einem so großen Interesse an diesem Spiel versuchen selbstredend viele, damit den Rubel rollen zu lassen, teilweise mit fragwürdigen Verknüpfungen. Man darf schon fragen, ob es dem Medienhaus Burda wirklich etwas bringt, seine Partnerschaft mit der Telefónica bei der neuen Streaming-App „TV Spielfilm Live“ unbedingt „pünktlich zur Fußball-Europameisterschaft in Frankreich“ zu starten oder ob Ferreros Kinderriegel mit Migrationshintergrund dem Konzern nun eher genützt hat als geschadet haben.

Nicht jeder Shitstorm muss sich schließlich für ein Unternehmen negativ auswirken. Bestenfalls bringt er Aufmerksamkeit und für Ferrero vielleicht einige Käufer weniger aus dem einen Lager, vielleicht aber einige mehr aus dem anderen. Tatsächlich waren hier auch Stimmen zu hören wie: „Da krieg ich doch gleich wieder Lust auf Kinderschokolade!“ Das laue Statement des international agierenden Konzerns zu nationalen Befindlichkeiten wegen dunkelhäutiger Kinder auf einem Schoko-Riegel war da schon fast überflüssig-kontraproduktiv – womit wir nun endgültig bei der Politik wären…

Fußball, Politik und Wirtschaft

Bei dieser EM geht es für die „Welt am Sonntag“  um nicht weniger als „um die Verteidigung der Freiheit gegen den Terror“. Wobei mit der Verteidigung des freien Sports gegen Terroranschläge derselbe wohl wirklich überfordert wäre. Das scheint mir eher eine Sache des Veranstalters zu sein – und der Hoffnung, alles möge gut gehen. Weder unter sportlichen und wirtschaftlichen, noch unter politischen Aspekten ist das im Vorfeld sinnvoll zu besprechen.

Wichtig ist jetzt das Geschehen auf dem Platz und wichtig ist das, was die Menschen da wahrnehmen: Nationalismen sublimieren in der Anschauung des Sports im internationalen Wettkampf. Das ist etwa seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg so und am stärksten ist es heute im populärsten Sport unserer Zeit. Eben deshalb ist das Fußballfeld auch ein Fever Pitch des politischen Populismus, Projektionsfläche für Nationalgefühle aller Art, für Ressentiments und Vorurteile, positive wie negative.

Deshalb auch stört es manche, dass jemand wie Boateng nicht nur auf der urdeutschen Kinderschokolade auftauchen. Vor allem stört es, dass sie Deutschland repräsentieren, auf der größten Bühne der Welt – 105 mal 68 Meter, laut UEFA-Norm, und zu sehen in Milliarden von Haushalten. Vielleicht irrt AfD-Vize Gauland ja öffentlich absichtlich, wenn er erklärt, Profi-Fußball sei „keine Frage der nationalen Identität mehr“, nur mehr „eine Geldfrage“ und die Nationalelf „nicht das passende Symbol“ für Deutschland. Für den internationalen Vereinsfußball mag er ja noch Recht haben. Doch Nationalspieler wie den Mekka-Pilgerer Mesut Özil und die Berliner Pflanze Boateng hat der DFB nicht im Ausland gekauft, sie sind Deutsche.

Warum sich Politiker in Sachen Fußball in Zurückhaltung üben sollten

Richtiger könnte da AfD-Chefin Petry mit ihrer Spekulation liegen, dass Özil „eine politische Aussage treffen wollte“. Nun ja, ohne Rückfrage mit den Verantwortlichen für die DFB-Öffentlichkeitsarbeit hat er sein Selfie vor der Kaaba ganz sicher nicht gepostet. Besser beraten wäre die AfD aber, wie übrigens alle Politiker vermutlich auch in ihrem eigenen Interesse, wenn sie beim Thema Fußball in den kommenden Wochen denselben etwas flacher halten würden und keine allzu langen Pässe in das Publikum schlagen. Die Leute wollen guten Fußball sehen. Und dazu gehört vor allem, dass das Runde ins Eckige fliegt – und nicht dauernd auf die Tribüne.

Doch Politiker haben schon immer viel Mist über Fußball geredet, schlimmeren noch als Fans, Spieler oder Trainer. Das war schon immer so und lud nicht erst 11FREUNDE-Autor Philipp Köster zu einer Generalabrechnung ein. Die Debatte um das Verhältnis von Politik und Fußball ist breit und vielschichtig. Man kann tief und tiefer in sie einsteigen.

Dabei machen selbst Politiker bisweilen ganz lustige Figuren am Ball, der eine etwas engagierter, der andere etwas eleganter.

„Made in…“: Der Herkunftsland-Effekt

Ärgerlich für international agierende Unternehmen, auch wenn sie gar nicht direkt ein Geschäft mit dem Fußball machen, können jedoch vor allem politische Unstimmigkeiten zwischen Regierung und den Bewohnern ihrer Länder werden. Nicht etwa, weil eine Regierung wegen eines verlorenen Spiels zu Boykotten aufrufen würde – vielmehr, weil sie dazu betragen, dass sich hässliche Vorurteile in den Köpfen von Menschen verfestigen und diese dann tatsächlich negative Effekte selbst auf Produkte eines Landes haben können.

Seit den 1960er-Jahren wird der Country-of-Origin-Effekt, also der Ursprungs- oder Herkunftsland-Effekt, erforscht. Heute gilt er als einer der am meisten untersuchten in der internationalen Verhaltensforschung. Viele Studien zeigten, dass Konsumenten und institutionelle Einkäufer subjektive Informationen und Vorurteile über ein Ursprungsland nutzen, um auf die Qualität eines Produktes zu schließen und Kaufentscheidungen zu treffen – ein messbarer Effekt. Und häufig wurde bestätigt, dass es signifikante Unterschiede in der Beurteilung von Produkten gibt, deren einziger Unterschied das Herkunftsland ist. Einige Studien sehen das Ursprungsland des Lieferanten – noch vor der Unternehmensgröße, vor Preis und Qualität – sogar als wichtigstes Kriterium für die Auswahl eines Verkäufers.

Das Image eines Landes kann einfach abgerufen werden, um auch unabhängig von Erfahrungen auf bestehende, vereinfachende Denkmuster zurückzugreifen. Dies führt zu kognitiver Entlastung, Entscheidungen fallen einfacher und schneller. So eben wirkt ein Vorurteil, als das der Country-of-Origin Effekt vor allem gesehen wird. Und leider gilt dieses Muster in vielen Studien als „langfristiges und nur schwer änderbares Konstrukt“.

Wie der Fußball Landesimages prägt

In den nächsten Wochen werden nun auf französischem Rasen wieder Länder-Images geprägt: Die Deutschen spielen so, weil sie so oder so sind, darum bauen sie auch solche Autos und seit neuestem foulen sie auch mal. Die Italiener haben das schon immer getan, sind weinerlich und lamentieren und so sind ihre Autos, die Russen sind ja alle gedopt und so weiter und so weiter. Die Liste solcher Vorurteile ist endlos.

Es spielt also eine Rolle, wie eine Nationalelf spielt und wie ihre Spieler auftreten. Der Ausgang des Brexit-Referendums am 23. Juni, mitten in der EM, dürfte angesichts der knappen Umfragen auch von den Erfolgen des englischen Teams abhängen. Nicht dass die gute wirtschaftliche Lage des Exportlandes Deutschland eine direkte Folge des WM-Titels 2014 wäre. Einen Anteil daran dürfte das Tor von Götze vor zwei Jahren aber gehabt haben. Dass da auch eine Kanzlerin mal in die Kabine guckt, um sich mit einem halbnackten Muslim erwischen zu lassen, hat also durchaus höhere Gründe, und vielleicht gibt es ja neben oder wegen dem Co-Effekt wirklich eine „Fußball-Politik-Analogie“?!

Und es hat übrigens ähnliche Gründe, dass weder Merkel, noch Vizekanzler und Wirtschaftsminister Gabriel oder Außenminister Steinmeier an der Abstimmung des Bundestags über die Armenien-Resolution teilgenommen haben, die in der Türkei als böses Foul gewertet wurde. „Die Türken toben!“, hieß es bei der BILD-Zeitung.

Das Ende ist ungewiss – aber die EM wird dabei eine Rolle spielen

All dies jedoch schart sich um ein Spiel mit ungewissem Ausgang. Vorhersagen dessen, was kommt, sind ähnlich schwierig wie die von Börsenkursen. Skandale kann es geben oder Zufriedenheit auf allen Seiten. Nichts lässt sich vorhersagen, möglich ist das in Grenzen nur für das, was passiert, wenn etwas passiert. Dann führen kluge Analysen zu klugen Reaktionen. Wie die Leute und die Politiker etwa auf Fußball-Ergebnisse und ihre Umstände reagieren, hängt dabei eng mit dem aktuellen wie dem traditionellen Verhältnis von Ländern zusammen – nicht viel anders als bei dem oben beschrieben Effekt.

Man stelle sich also vor, die Deutschen würden die Türken mit 6:0 „in die Wüste schicken“ (man sieht schon die Schlagzeile …). Und man stelle sich vor, kurz vor dem Ende hätte ein deutscher Abwehrspieler, vielleicht Boateng, den nach 90 Minuten mutigen Kampfs in einsamer Spitze allen so sympathischen kleinen Stürmer der Türken durch ein geschicktes Foul im Strafraum auch noch am Ehrentreffer gehindert – und alle haben es gesehen, nur nicht der Schiedsrichter. Gar nicht mehr vorstellen möchte man sich da, was los wäre, wenn es kurz vor Spielende 0:0 gestanden hätte. Für einen Populisten wie den türkischen Präsidenten Erdogan wäre das ein gefundenes Fressen und er könnte damit weitaus mehr seiner Landsleute auf die Palme bringen als mit seinem kindischen Aufhebens um Böhmermanns Beleidigung.

Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu oder zu solchen Bildern kommt, zwar höher als die eines größeren Lotto-Gewinns. Sie ist aber – Jürgen Kohler sei Dank! – nicht höher als die Aussicht auf einen kleinen. Frühestens im Viertelfinale, wenn es Deutsche oder Türken so weit schaffen, könnte es eine Begegnung geben, wenn auch in diesem Jahr ganz sicher ohne Merkel neben Erdogan auf der Tribüne.

Aber vielleicht sind am 10. Juli auch alle glücklich. Vielleicht gibt es tolle Überraschungen oder das Ergebnis entspricht den Erwartungen. Vielleicht geben sich alle fröhlich die Hand, freuen sich über ein großes Win-Win und winken mit dem Wimpel. Auch das ist bei dieser EM natürlich möglich. Denn im allerbesten Fall bleibt Fußball eben doch nur ein Spiel.

Dieser Text wurde zuerst auf dem NIMIRUM-Blog publiziert. Wir freuen uns, ihn auch hier veröffentlichen zu können.

Mehr bei EDITION F

Zur Taktikanalyse braucht man keinen Penis. Weiterlesen     

Esther Sedlaczek: „Ich habe immer einen Trumpf in der Hand“ Weiterlesen

Tweet-Meisterinnen: Elf Frauen für die Fußball-Timeline. Weiterlesen

Anzeige