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Warum die Familie in Zeiten des Social-Media-Overkills so wichtig ist

Facebook, Instagram, Twitter und Co. zeigen immer nur einen kleinen Ausschnitt unseres Lebens: Unser herausgeputztes Ich. Unsere dunklen Stunden schneiden wir dabei gekonnt heraus. Um so wichtiger ist es, Leute um sich zu haben, die eben diese Stunden mit dir erleben.

Ich habe Profile bei Facebook, Instagram, Twitter und Pinterest (von Snapchat konnte mich bislang noch keiner überzeugen) und ja, ich bin häufig online. Mehrfach täglich checke ich, was auf meinen Kanälen so los ist. Auch wenn Whatsapp (bzw. Telegram) mein Kommunikationsmittel Nummer eins bleibt, fressen diese „Schöner Leben”-Apps eine beachtliche Menge meiner Zeit. Im Büro ist es etwas völlig normales, sein Smartphone neben dem Rechner liegen zu haben. Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich mich dann nicht konzentrieren kann. Auf einem Gerät zwischen den ganzen Medien hin und her zu springen ist schon anstrengend genug, aber dann auch noch auf zwei oder noch mehr Geräten? Das arme Gehirn. Da ist deine Aufmerksamkeitsspanne überreizt, bevor du morgens um halb zehn dein Knoppers gefuttert hast. Also, Handy in die Handtasche! Dein Gehirn wird es dir danken. Aber mal ab davon. Wenn ich abends im Bett liege und auf Instagram „stalke”, dann sehe ich all die schönen Dinge, die meine Freunde tun, oder meine Bekannten erleben. Oder irgendwer, den ich vor zehn Jahren vermutlich das letzte mal gesehen habe

Mein Social-Media Ich: Mein besseres Ich

Alles funkelt und glitzert. Glückliche Gesichter, super spannende Geschichten. Abenteuer über Abenteuer. Und Erfolg. Oh my fucking Gosh, dieser Erfolg. Alle scheinen ihn zu haben, einfach so. Die eine kann plötzlich super fotografieren, die andere malt wie van Gogh. Das es unzählige Versuche gebraucht hat, bis Freundin X so fotografieren konnte und Freundin Y auch nicht über Nacht zur Künstlerin wurde, blenden wir ganz automatisch aus. Seht her, mein Leben ist soooo super. Ich bin so unfassbar zufrieden, mit mir, meinem Job und sowieso allem! Happy Guuuurl!

Happy Girl fürn Arsch. Schöner-Leben-Apps zeigen dir Menschen in ihren glücklichen Zeiten – und zwar nur dann. Sie zeigen sie nicht, wenn sie heulend auf dem Sofa liegen, weil ihre Beziehung gerade in die Brüche gegangen ist. Sie zeigen nicht die Momente, in denen sich der Mensch Sorgen macht, um andere Menschen in seinem Leben, die ihm wichtig sind. Schöner Leben heißt nicht, ich zeige euch mal, wie ich meine kranke Oma im Krankenhaus besuche, ich zeige euch nicht, wie ich mit verrotzter Nase im Bett liege und denke „Bin ich ein Mann, oder warum fühlt sich diese Grippe so schrecklich an?” Nein, dein Social- Media-Ich zeigt immer nur einen minimalen Ausschnitt deines Lebens. Dabei ist häufig nicht einmal der authentisch dargestellt. Inszeniert wird ein besseres Ich. Am besten finde ich ja die Mädels, die sich halb nackt und perfekt geschminkt ins Bett legen und unter das Bild posten: „Soooo, ich hau mich jetzt nochmal hin. Bis heute Abend, Paaarty!”. Und ich denke so: „Sicher! Ich lege mir auch immer noch eine Schicht Make-up und Lippenstift drauf, bevor ich schlafen gehe. Wenn schon ein Einbrecher kommt, soll der mich wenigstens geil finden! – ähm, hä?! Ich verstehe es nicht. Richtig wirklich, wahrhaftig verstehe ich es so ganz und gar nicht.

Die ungeschönten Wahrheiten des realen Lebens

Um so wichtiger sind die Menschen in deinem Leben, die dir die ungeschönten Wahrheiten des Lebens zeigen. Das können Freunde sein. Aber auch die zeigen dir oft nur einen Ausschnitt und halten Details zurück, die ihnen eventuell unangenehm sind oder in ihren Augen dein Bild von ihnen negativ beeinflussen könnten. Ob das dann tatsächlich so ist, sei mal dahingestellt. Auch deine (guten) Freunde sind stets darauf bedacht, dir die positive Seite von sich zu zeigen. Vielleicht liegt ihr gemeinsam auf dem Sofa, während du ihren Liebeskummer mit Wein und blöden Witzen verscheuchst, aber (zu) viele Menschen haben den ständigen Drang trotzdem einen gewissen Schein zu bewahren. Sie sind der Meinung, wir hätten ein bestimmtes Bild von ihnen in unseren Köpfen, das sie erschüttern würden, sobald sie sich von einer Seite zeigen, die uns an bis dahin unbekannte Ufer führt. Die Angst davor, dass Charakerzüge nicht so akzeptiert werden, wie sie sind, ist größer als der Drang dir die ungeschönte, die ungeschminkte Wahrheit zu ihrer Welt zu zeigen. Deshalb wird vorher oft noch ein bisschen Make-up und Lippenstift aufgelegt. Nichts was du zu hören bekommst ist eine Lüge, aber es ist eben auch nicht die ganze Wahrheit.

Die Familie ist da schon etwas anderes. Hier ist niemand geschminkt, niemals. Wir erleben schlechte und gute Tage, gleichermaßen. Viele Freunde sagen: „Fühl dich wie zu Hause!” – nein, danke. Ich bin nicht zu Hause. Dafür ist es zu schön hier. Zu schön, um wahr zu sein. Aber sobald deine Familie dich umgibt, ist alles ehrlich. Ungeschönt und real – das richtige Leben eben. Deine Familie kennt nicht nur nur einen Teil deines Lebens, sie kennt dein ganzes Leben. Und vor allem kennen sie dich dein ganzes Leben lang. So wie du bist. Wie du lachst, in deinen goldenen Zeiten. Und wie du weinst, in deinen dunklen Stunden. Sie wissen, wie du drauf bist, wenn du nach einen Sturz wieder aufstehst und versuchst, sicher auf beiden Beinen zu stehen. Und sehen nicht nur, wie du wieder stabil stehst, sie haben auch alles davor gesehen. Deine wackligen Gehversuche, dein erneutes Stolpern und dein Lächeln, nachdem du wieder aufrecht stehst. Bis auf die perfekt aufgeräumte Wohnung für die Verwandtschaft, ist dort nichts inszeniert. Und wie hart der Weg zum Erfolg ist, egal ob im Privat- oder Berufsleben, zeigt dir nur deine Familie. Sie kotzt ihre Gedanken und Gefühle nicht hinter den Müllcontainer,  sie kotzt sie dir mitten ins Gesicht. Und das ist gut so. Denn all zu schnell vergessen wir: Wo Glück, Zufriedenheit und Erfolg zu sehen sind, lag vorher ein langer Weg. Vielleicht ein leichter, vielleicht ein holpriger, aber er musste gegangen werden. Social Media zeigt uns diese Wege nicht. Facebook, Instagram, Twitter und Co. zeigen dir eine geschönte Wahrheit des Lebens. Dort sehen wir nicht die Arbeit, sondern nur das Vergnügen.

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