Frauen, die Kinder haben und berufstätig sind, werden von allen Seiten kritisiert – und machen sich selbst oft die meisten Vorwürfe. Das ist aber totaler Quatsch! Ein Brief an diese tollen Frauen.
Liebe Kollegin mit Kind,
ich habe dich bereits in nahezu jedem meiner bisherigen Jobs kennenlernen dürfen. Du bist eine intelligente Frau, die ihren Job gut macht, und ein Kind hat (oder mehrere). Du bist entweder super nett oder zum Kotzen, hast Humor oder auch nicht. Du hast deine Erfolgs- und Krisenmomente im Job, hast produktive und unproduktive Tage; du durchlebst Höhen und Tiefen, wie wir alle. Kurz gesagt, du bist wie jede und jeder andere auch.
Und doch ist da eine Sache, die dich, liebe Kollegin, von uns anderen (und mit „uns“ meine ich Mitarbeiterinnen ohne Kind sowie die meisten männlichen Kollegen mit Kind) unterscheidet: du fühlst dich stets schuldig. Jeden Tag, für jede Kleinigkeit.
Und täglich grüßt das Schuldgefühl
Du fühlst dich schuldig dafür, dass nicht du jeden Tag die Mathehausaufgaben mit deinem Sohn machst, sondern die Nachhilfelehrerin. Fühlst dich schuldig dafür, dass die Muffins, die du deiner Tochter zum Kindergartenfest mitgibst, von Lidl sind und nicht selbst gebacken. Du fühlst dich schuldig, wenn du ab und zu früher aus dem Büro gehen musst. Und genauso schuldig, wenn du das mit dem früher gehen nicht schaffst, und deine Tochter nun 15 Minuten mit dem grimmig dreinblickenden Kindergärtner oder der Kindergärtnerin auf dich warten muss.
Du trägst eine permanente Dauerlast namens „Schuld” mit dir herum, die keine berufseinsteigende Mitt-Zwanzigerin und kein beruflich erfolgreicher Familienvater kennt – weil es weder den Begriff „Raben-Berufseinsteiger“ noch „Raben-Vater“ gibt. Warum auch.
Liebe Kollegin mit Kind, ich, als Tochter einer arbeitenden Mutter, möchte dir sagen: Du brauchst dich nicht schuldig fühlen. Es gibt, wenn wir mal in uns gehen und ehrlich sind, keinen Grund dafür. Die Chancen stehen gut, dass dein Kind sich in den 15 Minuten Wartezeit blendend mit der Erzieherin oder dem Erzieher amüsiert hat, denn es hat ja deren gesamte ungeteilte Aufmerksamkeit genießen dürfen. Die Kleine wird es überstehen – und ich weiß, wovon ich rede, denn meine Mutter war auch berufstätig. Ja, ab und zu war ich im Kindergarten auch tatsächlich die letzte, die abgeholt wurde. Ich erinnere mich noch gut daran, denn dann durfte ich das Spielzeug, um das sich tagsüber noch alle gestritten hatten, komplett für mich beanspruchen. War ganz geil eigentlich.
Ein Hoch auf uns Schlüsselkinder
Später hatte ich dann unseren Wohnungsschlüssel an einem schicken Band um den Hals (#Schlüsselkind #yeah). Mal davon abgesehen, dass ich diesen ständig irgendwo vergessen, verloren oder verlegt habe, fand ich das im Großen und Ganzen prima. Ich habe nachmittags zu Hause die Ruhe genossen und Hausaufgaben gemacht – oder Sandwiches mit geschmolzenem Käse gegessen und „Rockos modernes Leben” geguckt. Und wenn nun jemand findet, dass das ein grausames und bemitleidenswertes Szenario ist, dem kann ich dann ehrlich gesagt auch nicht mehr weiterhelfen.
Liebe Kollegin mit Kind, mach dir bitte keine Sorgen. Dein Sprössling wird nicht als einsamer, wütender Psychopath auf dieser Welt umherziehen, nur weil du ab und zu im Büro feststeckst und es nicht schaffst, selbstgemachten Avocado-Dip zum Abendbrot zuzubereiten. Viel wahrscheinlicher ist doch, dass dein kleiner Sohn gerade mit der Tante, mit Opa oder der netten Nachbarin, dessen Sohn im selben Alter ist, die Zeit seines Lebens hat. Die einzige, die leidet, bist du, weil du dich schuldig fühlst. Weil man dir weismacht, dass du dich schuldig fühlen müsstest. Aber ist es denn nicht einfach nur gesund, wenn ein Kind mehr als einen oder zwei Menschen als Bezugspersonen in seinem Leben hat? Braucht es nicht bekanntlich ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen?
Unabhängigkeit lernen gehört dazu
Geht es nur mir so, oder haben wir seit unserer Kindheit alle vergessen, dass man als Kind seine Eltern zwar sehr liebt und gerne Zeit mit ihnen verbringt – aber dass man auch die Momente der wachsenden Unabhängigkeit gerne annimmt? Weil sie Abenteuer und Wachstum bedeuten? Haben wir vergessen, dass wir in den Momenten ohne Mami und Papi zwar vielleicht Anfangs ein bisschen Angst hatten, aber uns danach immer groß und stark gefühlt haben?
Viele Jahre nach meiner Kindheit war ich ziemlich überrascht, als meine Mutter mir erzählte, dass sie sich oft schuldig gefühlt hat. Weil sie gearbeitet hat, weil sie ab und an zu spät kam, weil sie nicht die typische perfekte Bilderbuch-Mutter war (ehrlich mal, was ist das bitte schön überhaupt?). Dass sie sich oft gefragt hat, ob wir (meine Schwestern und ich) ihr deswegen Vorwürfe machten. Ich war ehrlich erstaunt, denn das hätte ich ihr niemals zum Vorwurf gemacht. Nein, auch nicht heimlich im Stillen.
Mama und Papa arbeiten gleichwertig
Ganz im Gegenteil. Ich bin ihr heute dankbar dafür, dass sie mich zu der starken und selbstständigen Frau erzogen hat, die ich bin. Ich bin ihr dankbar, dass sie mich immer hat spüren lassen, dass ich zu allem fähig bin, wenn ich es nur will und hart dafür arbeite.
Mehr noch, ich bin dankbar dafür, dass sie es mir vorgelebt hat. Als älteste von drei Schwestern war es für mich ein vollkommen fremdes Konzept, dass ich aus irgendwelchen dubiosen Gründen weniger wert sein oder weniger erreichen sollte, als ein Junge (hä?!). Mama und Papa arbeiten beide gleichwertig – das ist die Normalität. Weil nämlich keiner von beiden das Geld geschenkt bekommt und weil ebenso keiner von beiden bei Aldi an der Kasse mit Luft und Liebe bezahlen kann. Übrigens verdient meine Mutter auch mehr als mein Vater; dass das für manche Menschen etwas Ungewöhnliches oder Anstößiges sein soll, habe ich erst viel später verdutzt erfahren müssen.
Dankbar bin ich meiner Mutter übrigens auch dafür, dass ich gelernt habe, wie man in nur zehn Minuten ein halbwegs gesundes Abendessen zubereiten kann, wenn die Zeit mal wieder knapp ist. Und dass alle zufriedener sind, wenn man dafür einfach länger als Familie zusammensitzt und herumblödelt. Ja, das lernst du in keiner Schule.
Die perfekte Mutter gibt es nicht
Liebe Kollegin mit Kind, glaub mir, es wird alles gut. Dein Kind wird noch genügend Gründe haben, dich temporär zu hassen – hallo Pubertät, ich meine dich – und das zu-spät-vom-Kindergarten-abholen wird da noch deine geringste Sorge sein. Das kannst du nicht einmal verhindern, wenn du ausnahmslos immer die erste bist, die ihrem Kind mit Zahnpasta-Werbungs-Lächeln entgegen winkt. Nein, nicht mal wenn du jedes mal selbstgebackene Schokokekse dabei hast.
Und da ist noch eine weitere Sache, liebe Kollegin mit Kind. Eine Sache, die ich vorher auch schon wusste, die du der Welt aber täglich vorlebst: nämlich dass eine Familie zu haben, einen weder unproduktiver, oder fauler, noch weniger engagiert macht. Ganz im Gegenteil: Zeitdruck, ist vielmehr das beste Mittel, um effizienter zu arbeiten und besser priorisieren zu lernen. Du verschwendest deine Zeit nicht in sinnlosen Meetings oder mit unwichtigem Kleinkram. Du gehst die wirklich wichtigen Dinge an und zwar sofort und mit höchster Effizienz – weil du nach Feierabend nämlich besseres zu tun hast, als im dunklen Büro zu sitzen und unbezahlte Überstunden zu klotzen.
Ich plädiere für Stolz statt Schuld
Liebe Kollegin mit Kind, mach dich bitte nicht mehr selbst dafür fertig, dass du dankenswerterweise unsere Spezies am Leben erhältst. Rede dir nicht ein, dass du angeblich weder auf der Arbeit noch zu Hause „genug” seist. Denn du bist es sehr wohl. Sei stolz darüber, dass du mit positivem Beispiel vorangehst. Dass du deinem Kind und uns anderen vorlebst, dass das Leben nicht vorbei ist, nur weil man Kinder hat. Dass du deinem Arbeitgeber entgegen allen Vorurteilen zeigst, dass auch Menschen mit Kindern nicht aufhören, vollwertige Arbeitskräfte zu sein (dass man das überhaupt gesondert erwähnen muss, ist schon lächerlich genug).
Meine Mama war damals auch wie du. Sie hatte auch ein schlechtes Gewissen – während ich glücklich und zufrieden Sandwiches mit geschmolzenem Käse aß und tat, was meine Aufgabe war: in Ruhe aufwachsen, meinen Platz in dieser Welt finden und ab und zu Zeichentrickfilme sehen.
Ende gut – alles gut
Ich käme niemals auf die Idee, meiner Mama böse dafür zu sein. Nein, ich finde bei aller Bescheidenheit, dass sie mich im Großen und Ganzen ganz ok hinbekommen hat. Hätte sie sich 24/7 nur mir alleine gewidmet – meine vielen Fehler und Macken hätte sie damit auch nicht beseitigt bekommen. Im Gegenteil, wahrscheinlich hätte ich dann noch mehr davon.
Heute weiß ich nur eins: ich kann froh sein, wenn ich es eines Tages nur halb so gut hinbekomme, wie sie oder du oder all die anderen Frauen da draußen.
Dieser Text von Christina Wunder ist zuerst auf Chapter One Mag erschienen. Wir freuen uns, dass wir ihn auch hier veröffentlichen dürfen.
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