Arbeiten bis zur totalen Erschöpfung? Tina Breit, Heilpraktikerin für Psychotherapie, arbeitet mit Menschen, für die der Ausstieg aus der Leistungsspirale unserer Arbeitswelt unmöglich scheint, aber notwendig ist. Was sich ändern müsste und wie sie mit ihren Klienten arbeitet, verrät sie im Interview.
„Es ist nicht gut, wenn wir 90 Prozent unseres Selbstwertes aus unserer Arbeit ziehen“
Immer länger am Schreibtisch sitzen, um die Letzte im Büro zu sein, noch mehr leisten, um noch mal eine Gehaltserhöhung zu kassieren, die Mittagspause wieder sausen lassen, um im Projektplan zu bleiben – bis zur totalen Erschöpfung: Tina Breit, Heilpraktikerin für Psychotherapie, arbeitet mit Menschen, für die der Ausstieg aus der Leistungsspirale unserer modernen Arbeitswelt unmöglich scheint und dennoch notwendig ist. Doch warum finden wir eigentlich keinen Abstand mehr zu unserem Job und was bringen Freizeit-Angebote innerhalb des Unternehmens? Vor allem mangelt es uns allen an Selbstliebe, sagt Breit.
Frau Breit, Sie sind heute Heilpraktikerin für Psychotherapie. Zuvor haben Sie erfolgreich im Marketing gearbeitet. Wie kam es zu dieser radikalen Kursänderung?
„Von außen betrachtet mag das wie eine fundamentale Kursänderung wirken. Tatsächlich ist es so, dass ich schon als junge Frau nach dem Abitur gerne Psychologie studiert hätte, mich damals aber dann doch für ein BWL- und Sprachenstudium entschieden habe. Heute, 20 Jahre später, sehe ich, dass das genau mein Weg sein musste. Denn erst meine jahrelange Berufserfahrung in der freien Wirtschaft, in einem vergleichsweise toughen Business, hat die Grundlage für meine heutigen Schwerpunkte als Coach und Therapeutin geschaffen.“
Sie arbeiten mit Menschen, die sich beruflich in einer scheinbar ausweglosen Situation befinden. Was glauben Sie, braucht die Arbeitswelt, damit sich Führungskräfte und Teams wohler fühlen, vor dem Ausbrennen geschützt sind, eine Kursänderung vielleicht auch gar nicht nötig wird?
„Das mag jetzt pathetisch klingen. Aber am Ende des Tages bräuchte es vor allem in den Führungsetagen mehr Selbstliebe.“
„Auf uns selbst hören? Fehlanzeige!“
Und das heißt konkret?
„80 Stunden arbeiten? Immer wieder auf die Mittagspause verzichten? Etwas tun, weil mein Vorgesetzter es ja auch tut? Auch die Chefs berichten mir, dass sie sich nach oben orientieren. Da hört diese Endlosschleife also nicht auf. Wir haben uns diese Art zu arbeiten, nein zu leben, selbst erschaffen, und wissen jetzt nicht mehr raus. Wir schauen meistens ins Außen, vergleichen, wie es andere machen und passen uns daran an. Auf uns selbst hören? Fehlanzeige!“
Und was hat das mit Selbstliebe zu tun?
„Wenn jeder gut mit sich selbst umgehen würde, sich selbst gut spüren könnte, das heißt auch seine individuellen Leistungsgrenzen wahrnehmen würde, mit seinen Ressourcen gut zu haushalten wüsste, dann würden wir auch mal früher nach Hause gehen, mehr Zeit mit unseren Familien verbringen oder doch mal öfter einem Hobby nachgehen. Das bedeutet Selbstliebe, maximal gut für sich zu sorgen, wissen, was einem gut tut.“
Das Problem ist: Wenn ich aber als Einzige in der Abteilung früher zu gehen, kann es auch schnell zu Missgunst im Team kommen.
„Da geht es dann darum, seinen eigenen Wert zu kennen und auszubalancieren. Es gibt mehrere Säulen, die das ausmachen, was wir als Identität definieren: Dazu zählt die Arbeit, aber eben auch die Familie, Freunde, ein Hobby, unser soziales Setting sozusagen und unser individuelles Wertesystem, nach welchem wir unser Leben ausrichten. Um gut und stabil im Leben zu stehen, sollten diese unterschiedlichen Säulen sich in einer guten Balance befinden. Nun leben wir aber in einer Zeit, in der die Arbeitssäule sehr viel mehr Platz zugesprochen bekommt, als oftmals gesund sein kann. Wenn ich meiner Arbeit 90 Prozent meines Selbstwertes zuschreibe, und diese dann wegbricht, oder irgendetwas total schiefläuft, ist es selbstverständlich, dass ich als Person direkt ‚hinterherbreche‘.
Außerdem werde ich natürlich erst einmal alles dafür tun, um den Job zu behalten. Das Hamsterrad ist aktiviert. Wenn ich aber noch einen guten Freund habe, meinen Hund, mein Hobby, meine Familie als wirkliche tragende Ausgleichssäulen, kann ich nicht so tief fallen, kann ich mich damit erstmal ausgleichen, bis ich auch meine Arbeitssäule wieder aufgestellt habe.“
Und wann soll man diese anderen Säulen bei einer 80-Stunden-Woche pflegen?
„Genau an dieser Stelle darf dann die Veränderung passieren. Ich muss mich schon fragen: Was ist mir wirklich wichtig? Was ist mir mein bisheriges Arbeitsleben wert? Und vor allem, was bin ich mir selbst wert? Wieder Stichwort: Selbstliebe.“
„Die Unternehmen sind gefordert, echte Grenzen zur Arbeit zu schaffen“
Was bedeutet das für Arbeitgeber? Sehr arbeitsintensive Jobs sind nun mal Realität.
„Das ist so einfach wie schwierig: Wir müssen in der Arbeitswelt bessere Möglichkeiten schaffen, ein ausgeglichenes Leben zu führen. Wir wissen ja aus aktuellen Studien, dass Mitarbeiter, die sich extrem mit ihrer Arbeit identifizieren, am Ende dem Unternehmen sogar schaden, weil sie nicht mehr die nötige Distanz wahren können. Und dann sind sie irgendwann nicht mehr in der Lage effektiv und wertvoll für das Unternehmen zu arbeiten. Abstand brauchen wir ja auch in allen anderen Lebensbereichen. Keine Partnerschaft zum Beispiel hält ewig, wenn einer zu sehr klammert.“
Helfen ihrer Ansicht nach firmeneigene Fitnessstudios, Conventions auf Mallorca und regelmäßige Firmenfreizeitevents? Das ist ja gerade sehr angesagt.
„Wenn dem Mitarbeiter die Möglichkeit genommen wird, einen Schritt zurück zu treten, auch mal Abstand herzustellen, sich zwischenzeitlich völlig etwas Anderem hinzugeben, ist das eine große Gefahr für gänzliche Erschöpfung. Pseudo-Erholungsangebote binden den Mitarbeiter oft nochmal mehr an das Unternehmen. Wir brauchen die Chance, Momente der Stille zu erleben. Wenn ich zwischen zwei wichtigen Meetings die Möglichkeit habe eine Yogastunde im Büro nebenan zu machen und meine Freizeit mit Kollegen bei einem Firmenevent verbringe, ist es wirklich fraglich, wie ‚resettet‘ ich danach tatsächlich bin. Da sind die Unternehmen gefordert, für echte Grenzen zur Arbeit Räume zu schaffen – auch und gerade für Führungskräfte. Und vor allem: nicht nur einmal im Jahr.“
„In den USA geht man mit dem Thema Therapie und Coaching viel offener um“
Statistiken zeigen, dass vor allem Frauen im Alter zwischen 40 und 50 Jahren wegen psychischer Erschöpfung ausfallen. Wer kommt zu Ihnen in die Praxis? Und mit welchen Hintergründen?
„Leider sind Frauen heute ja immer noch in der Position, beruflich in vielen Bereichen benachteiligt zu werden und sind deshalb noch mehr im Zugzwang sich adäquat einzubringen. Die Gefahr dabei auszubrennen ist natürlich hoch. Das heißt aber nicht, dass Männer nicht auch dieser Gefahr ausgesetzt sind.
Ich begleite hauptsächliche berufstätige Menschen. Das sind Männer wie Frauen schon ab einem Alter Anfang Dreißig. Viele sind tatsächlich in ihren 40ern und 50ern an dem Punkt, wo sie einige ihrer Reserven aufgebraucht haben und oftmals bereits in Eigenregie versucht haben, wieder ins Lot zu kommen. Das aber leider nicht gelungen ist. Es fehlt schlicht die tiefere Balance. Und die alleine wieder zu finden, ist ab einem bestimmten Punkt extrem schwierig.“
Die Angst davor, von seinem Umfeld abgewertet zu werden, wenn man offenlegt, dass man Hilfe braucht, ist ja auch groß.
„Ja, auch meine Klienten haben diese Angst oft. In den USA geht man mit dem Thema Therapie und Coaching zum Beispiel viel offener um. Bei uns in Deutschland ist das leider noch anders. Es ist doch so: Jeder Sportler, jeder Politiker, jede Führungskraft in großen Unternehmen holt sich für alle möglichen Bereiche Unterstützung. Wir sind in den wenigsten Dingen des Lebens in der Lage, Ziele alleine zu erreichen. Das ist auch von der Natur vorgegeben: Wir sind soziale Wesen, wir lernen voneinander.
Und welchen besseren Invest könnte es denn geben, als den in mich selbst? Aber gerade in Führungsetagen herrschen da noch Vorbehalte, obwohl gerade das Unternehmen ja davon profitiert, wie vorher schon mal gesagt, wenn Mitarbeiter sich ihrer selbst annehmen. Da können wir als Gesellschaft noch einiges verändern.“
Was unterscheidet therapeutisch gestütztes Coaching von einer, sagen wir, klassischen Therapie?
„Das ist natürlich von Klient zu Klient sehr individuell. Grundsätzlich hat sich die therapeutische Landschaft sehr verändert. Die Therapieformen, die heute angeboten werden können, beziehen die neuesten, vor allem neurowissenschaftliche Erkenntnisse, ein. Damit können wir viel zielgerichteter an Themen herangehen als noch vor einigen Jahren.
Ich selbst arbeite unter anderem mit Methoden der Traumatherapie: Jeder von uns hat ja mal etwas erlebt, als Kind oder auch später, das sein heutiges Verhalten mitunter ungünstig beeinflusst. Daraus entstehen (Verhaltens)-Muster, die wir zusammen aufspüren, bewusstmachen und auch auflösen können. Die Methoden der Traumaarbeit sind dabei besonders effektiv.
Und ich beziehe die Körperarbeit mit in meine Behandlungen ein. Gerade bei jenen Klienten, die aus diesen extrem leistungsorientierten Arbeitswelten kommen, große Erschöpfung spüren, kann die zusätzliche Körperarbeit ein hohes Kraftpotential freisetzen, dazu beitragen, sich selbst wieder wahrzunehmen. Körperpsychotherapie stellt für mich eine der durchschlagendsten Methoden dar, auch in kurzer Zeit tatsächlich etwas zu verändern.“
Wie können Verhaltensmuster schnell aufgelöst werden, wenn sie doch mitunter schon Jahrzehnte Bestand haben?
„Wir alle sind ja durchaus in der Lage zu erkennen, wenn wir mal wieder dies oder das tun sollten, um uns besser zu fühlen. Wir nehmen uns etwas vor – zum Beispiel als Neujahrsvorsatz. Und nach diesen Vorsätzen können wir solange handeln, bis wir wieder in einen Engpass kommen, uns in einer Situation wiederfinden, die ein Muster auslöst. Das kann zum Beispiel eine stark empfundene Konkurrenzsituation bei der Arbeit sein. Und wenn ich dann weder den Hintergrund meines Musters kenne, noch ein Werkzeug habe, ihm zu begegnen, dann falle ich in mein altes Verhalten zurück, die sogenannten alten Glaubenssätze werden aktiviert.
Das ist natürlich auch demotivierend, aber ganz natürlich. Im therapeutisch gestützten Coaching, schauen wir uns genau diese Situationen an, woher kommen die Gefühle dabei, wo sind sie verwurzelt? Wir sind in der Lage, die alten Glaubenssätze tatsächlich zu überschreiben. Wir wenn wir sozusagen eine Datei auf einer Festplatte, unserem Gehirn, durch eine neue Datei ersetzen. Es wird neurologisch eine neue Verknüpfung erstellt.“
Was kann so ein alter Glaubenssatz sein?
„Zum Beispiel: Wenn ich das nicht sofort hinbekomme, bin ich dumm. Oder: Ich bin nicht liebenswert, wenn ich das nicht leisten kann. Solche negativen Glaubenssätze sitzen tief und machen, werden sie aufgespürt, meist auch erstmal sehr betroffen. Da diese inneren Glaubenssätze und darauffolgende Verhaltensmuster oft aus unserer frühen Kindheit stammende Überzeugungen enthalten, sind sie uns häufig nicht bewusst. Wir tun also Dinge aus einer falschen Motivation heraus, aus einem individuellen Gedankenkonstrukt, das oft völlig überzogen und realitätsfern ist. Wenn ich aber die Muster kenne, bin ich auch in der Lage, mein Verhalten zu verändern. Meine Motivation, dabei zu bleiben, meinen neuen Weg zu gehen, ist ungleich größer. Ich weiß ja nun, dass mein Handeln, auf Gedanken und Gefühle beruhen würde, die nicht der Realität entsprechen.“
Ist das belegt?
„Ja, diese neurologische Veränderung im Gehirn lässt sich zum Beispiel in einer Computertomographie sichtbar machen. In jeder Traumasitzung werden sozusagen neue Verknüpfungen im Gehirn geschaffen.“
Verraten Sie uns noch einen alten Glaubenssatz von Ihnen und wie Sie ihn überschrieben haben?
„‚Ich bin eine Last‘, kannte ich aus meiner Kindheit. Immer das Gefühl, etwas leisten zu müssen, um keine Last zu sein. Nur da zu sein reichte nicht, ich bin sozusagen immer gerannt. Positiv ist dann für mich: ‚Ich genüge‘.“
Zur Interviewten: Tina Breit lebt und arbeitet im Zentrum von München. Nach einem Sprachen- und Wirtschaftswissenschaften-Studium, legte sie ihr Diplom in Intercultural Business Affairs ab und arbeitete danach zehn Jahre festangestellt im Medienbereich in München, Berlin und Rom. Im Filmbereich war sie als freie Synchronredakteurin und Projektmanagerin für unterschiedliche Filmfirmen und Internetplattformen tätig. Zusätzlich zu ihrer Ausbildung als Heilpraktikerin für Psychotherapie, absolvierte Tina Breit zahlreiche Weiterbildungen, u.a. in ganzheitlicher EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing – Traumatherapie), ganzheitlicher Bild- und Gestalttherapie – BGT (mit Elementen von Carl Rogers & Fritz Perls) und Metamorphosetherapie (Körperpsychotherapie).
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