Foto: Mathias Becker

Vom Ehrenamt zum Social Business – was ich als Co-Gründerin gelernt habe

Wie gründet man ein erfolgreiches Sozialunternehmen? Community-Autorin Sally Ollech hat es geschafft: Sie ist Co-Gründerin eines Unternehmens, das Stadtführungen aus der Perspektive obdachloser und geflüchteter Menschen anbietet.

 

Die Gründung

Wo ist der obdachlose Mann, der jeden Morgen vor unserem Bürogebäude am Potsdamer Platz stand und dann plötzlich verschwunden war? Wo sind all die sichtbaren Unsichtbaren? Es gibt wenige Orte, an denen Menschen mit und ohne festen Wohnsitz ins Gespräch kommen können. Wenn man einander nicht wahrnimmt, verliert man den Blick füreinander.

In Kopenhagen (Gadens Stemmer), London (Unseen Tours) und Hamburg (Nebenschauplätze) gab es bereits Stadtrundgänge aus der Perspektive von obdachlosen Menschen – wir wollten in Berlin an einem solchen Rundgang teilnehmen, aber fanden kein entsprechendes Angebot. Das war der Impuls, es selbst ins Leben zu rufen: Im Sommer 2012 gründeten Katharina Kühn und ich querstadtein, holten die Idee der Stadtführungen aus der Perspektive ehemals obdachloser Menschen nach Berlin und erweiterten den Ansatz um eine zweite Stadtführergruppe: Geflüchtete Menschen.

Wir wollten Begegnungsräume schaffen. Teilnehmende können direkt ihre Fragen stellen: zum Leben auf der Straße, dem wie und warum oder aber zu der Fluchtgeschichte und dem Ankommen in Deutschland. Der Austausch verändert den eigenen Blick auf die Menschen und die Stadt in der wir gemeinsam leben. Für die Stadtführer und -führerinnen bietet die Arbeit bei uns eine Zuverdienstmöglichkeit und einen beruflichen (Wieder-)Einstieg. Wir wollen nicht über sie sprechen, sondern sie kommen selbst zu Wort. Und nicht zuletzt erfahren sie Anerkennung und Wertschätzung. Denn: „Auf der Straße wirst du unsichtbar“, erzählte unser erster Stadtführer Carsten Voss, „die Menschen schauen durch dich durch“.

Nach fünf spannenden und intensiven Jahren übergaben wir im Herbst 2017 eine gewachsene Organisation an eine neue Geschäftsführung, um selbst Raum für Neues zu haben. Hier kommen die drei Dinge, die ich in meiner Zeit als Co-Gründerin gelernt habe:

1. Das Team – gemeinsam schafft man (fast) alles!

Katharina Kühn und ich gründeten querstadtein ehrenamtlich, parallel zu unseren jeweiligen Teilzeitjobs im Umweltbereich. Zu Beginn waren wir zu zweit. Im Sommer 2012 brachten wir unsere Idee im Rahmen des Start Social-Businessplan-Wettbewerbs zum ersten Mal zu Papier und begannen mit der Vernetzung im sozialen Berlin. Wir merkten schnell: die Idee ist gut, aber die Umsetzung wird uns nur mit einem größeren Team gelingen.

Der Teamaufbau hat mir gezeigt, wie viele Leute Lust haben, an einer Initiative mit gesellschaftlicher Wirkung mitzuarbeiten. Für sinnvolle Ideen kann man schnell Mitstreitende gewinnen. Die ehrenamtlichen Teammitglieder rekrutierten wir überwiegend aus unserem Freundeskreis. Etwa ein Drittel des Teams gewannen wir auf Veranstaltungen, bei denen wir unsere Idee vorstellten. In den ersten anderthalb Jahren arbeiteten wir alle ehrenamtlich – nur die Stadtführer wurden von Beginn an bezahlt. Auch heute begeistern mich noch das enorme Engagement und die vielfältigen Kompetenzen, die unser erweiterter Freundeskreis einbrachte. Nur dadurch konnten wir gemeinsam so viel erreichen und aufbauen.

Erste bezahlte Stellen

Obwohl wir überzeugt von der Idee und unserem Konzept waren, wurden wir von der prompten und großen Nachfrage im Sommer 2013 überrascht. Wir hatten im März 2013 den Verein gegründet und pitchten querstadtein im Herbst desselben Jahres erfolgreich beim Social Impact Lab Berlin. Uns wurde schnell klar, dass die Nachfrage und das damit verbundene Wachstum hauptamtliche Strukturen erfordern. Wir stellten einen Förderantrag, hatten neben einer überzeugenden Idee auch Glück und damit die Finanzierung für die erste Stelle gesichert. Die Besetzung der ersten noch vollständig durch Fremdmittel finanzierten hauptamtlichen Stelle im März 2014 war ein großer personeller Umbruch für uns. 

Ehrenamtliche Strukturen und Aufgaben verändern sich, sobald einzelne Aufgaben vergütet werden: Es ist weniger selbstverständlich, dass alle unablässig für alle Aufgaben greifbar sind, wenn Stück für Stück eine Geschäftsstelle aufgebaut wird. Das ehrenamtliche Team beginnt sich mehr und mehr auf eine hauptamtliche Geschäftsstelle zu verlassen, die insbesondere die organisatorischen sowie strategischen Aspekte im Blick hat. Im Oktober 2015 kam eine zweite Stelle hinzu, um das neue Angebot, die Touren aus der Perspektive geflüchteter Menschen, zu konzipieren und umzusetzen. 2017 folgte die dritte, um das wachsende Tagesgeschäft bewältigen zu können, neue Stadtführerinnen und -führer zu suchen und mit ihnen neue Touren zu konzipieren.

2. Finanzierung und Geschäftsmodell – aus sozialem Engagement wird ein Social Business

Aus unserer Idee wurde zu allererst eine soziale Initiative, die sich in den ersten anderthalb Jahren rein ehrenamtlich trug. Daraus entstand ein Projekt, das durch die Auerbach Stiftung und danach durch die Bundeszentrale für politische Bildung gefördert wurde. Über die Jahre wurde querstadtein zu dem Sozialunternehmen, welches es heute ist. Das Geschäftsmodell basiert gegenwärtig auf einer Mischfinanzierung aus Fördermitteln und Einnahmen der Teilnahme-Beiträge – wobei der Anteil der Einnahmen Stück für Stück wächst.

Es gibt viele Möglichkeiten, soziale Ideen extern zu finanzieren – beispielsweise über private Stiftungen, Zuwendungen aus öffentlichen Förderprogrammen, durch soziale Investoren, Spenden oder Pro-Bono-Leistungen von Unternehmen. Allerdings bringen Fremdmittel immer auch Abhängigkeiten mit sich.

Von Beginn an war es uns wichtig, ein tragfähiges Geschäftsmodell zu entwickeln. Denn wir wollten uns langfristig und jenseits von geförderten Projektlaufzeiten etablieren. Das Geschäftsmodell sollte auf eigenen Einnahmen und zunehmender Unabhängigkeit von externen Zuwendungen basieren. Zum Zeitpunkt der Gründung war uns allerdings klar, dass wir zunächst auf ehrenamtliches Engagement und Fremdmittel angewiesen sein würden: Die Einnahmen trugen nicht die vollen Kosten und tun es auch derzeit noch nicht. Daher ist es wichtig einen Finanzierungsmix aufzubauen, um möglichst nicht von einem einzigen Förderpartner abhängig zu sein. Anfang 2016 haben wir den Nachteil einer solchen Abhängigkeit erfahren, als durch einen neuen Förderschwerpunkt der Stiftung unser Antrag nicht verlängert wurde. In diesem Moment war nicht klar, ob wir rechtzeitig eine Folgefinanzierung finden und wie es weitergehen würde. Eine herausfordernde Situation – für alle Beteiligten.

Förderer denken in Projekten

In der Förderlandschaft ist eine Art „Projektitis“ weit verbreitet: Neue Ideen werden in Form von Projekten gefördert, oft verbunden mit dem Zusatz „kein Maßnahmenstart vor Förderbeginn“. In der bestehenden Förderlogik ist das naheliegend: die Zuwendung ermöglicht erst die Umsetzung des neuen Projekts. Es ist schwierig, Förderpartner für das Weiterführen eines bestehenden Angebots zu finden. Es wäre wünschenswert, wenn es zur Förderung sozialunternehmerischer Organisationen eine degressive Förderpolitik geben würde: Die Förderquote würde sich bei wachsenden Umsätzen Stück für Stück verringern und somit ermöglichen, dass sich unternehmerische Ansätze und nachhaltige Finanzierungsmodelle entwickeln. Soziale, innovative Geschäftsmodelle würden dadurch gefördert werden. Dokumentieren soziale Organisationen ihre Wirkung transparent, können potentielle Förderer und Investoren zudem schneller von der gesellschaftlichen Wirkung des Geschäftsmodells überzeugt werden.

In den letzten Jahren gelang es uns, den Anteil der Kostendeckung aus eigenen Mitteln zunehmend zu erhöhen. Hierzu drehten wir an mehreren Stellschrauben: Wir haben neue Angebote geschaffen, mit weiteren Stadtführerinnen und -führern gearbeitet und veranstalteten dadurch mehr Touren. Darüber hinaus entwickelten wir höherpreisige, individuell zugeschnittene Formate für Unternehmen, die uns auch unsere ermäßigten Preise für Schulen und andere Bildungsträger ermöglichen.

3. Übergabe – die eigene Organisation in neue Hände geben und loslassen

Als Gründerin zu gehen, ist aus zwei Aspekten nicht einfach: erstens, jemanden zu finden, der zugreift und das Bestehende zum eigenen macht, und zweitens, der eigene Ablöseprozess von der Organisation.

Was passiert, wenn Gründerinnen den Staffelstab weitergeben? Zu Beginn habe ich die zentrale Bedeutung von uns Gründerinnen für das Fortbestehen von querstadtein unterschätzt. Ich war überzeugt davon, das Team trüge die Idee weiter, unabhängig davon, ob wir dabei sind oder nicht. Inzwischen ist mir klar, dass insbesondere in kleinen Organisationen für das Fortbestehen eine Person erforderlich ist, die eine sozialunternehmerische Rolle ergreifen will und sich gleichzeitig eng mit der Organisation verbunden fühlt.

Wer macht weiter?

Zudem ist die Suche nach einer Nachfolge bei Sozialunternehmen aus meiner Sicht schwieriger als im For-Profit-Bereich. Die Unsicherheit ist größer, die Finanzierung der Stellen knapper und immer wieder steht dadurch auch die Weiterführung der operativen Tätigkeit in Frage. Hierfür die richtige Person zu finden, braucht Zeit. Für die Geschäftsführung bedarf es eine Persönlichkeit, die sozialunternehmerisch und teamorientiert denkt, Risiken nicht scheut und Unsicherheiten aushalten kann, operative Themen managt sowie die bereits vorhandene Idee zu ihrer eigenen macht und strategisch weiterentwickelt.

Das eigene Baby loszulassen ist nicht einfach, aber wichtig. In meinen fünf Jahren bei querstadtein war mir nichts egal. Für das eigene Kind tut man alles – man arbeitet Nächte durch und denkt immer wieder aufs Neue an alle Potentiale. Gerade darum ist es aus meiner Sicht insbesondere in kleinen Organisationen wichtig, dass Gründer und Gründerinnen, die sich aus der operativen Geschäftsführung zurückziehen und eine Nachfolge suchen, die Organisation dann auch verlassen, damit Raum für die nächste Generation und ihre Entwicklungen entsteht.

Als Gründungsteam haben wir Mitte September 2017 die Geschäftsführung an Selina Byfield und den neu gewählten ehrenamtlichen Vorstand übergeben. Ich bin erleichtert und auch stolz, dass wir gemeinsam querstadtein dahin gebracht haben, wo die Organisation heute steht und bin gespannt auf die nächsten fünf Jahre! Und bei mir persönlich entsteht: Raum für Neues.

Dieser Beitrag ist zuerst beim Enorm-Magazin erschienen. Wir freuen uns, dass wir ihn auch hier veröffentlichen können. 

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