Ein Achtsamkeits-Bashing in einem Magazin hat unsere Community-Autorin Kirsten zum nachdenken gebracht. Sie findet: Achtsamkeit braucht keinen Gegenwind, sondern noch mehr mutige Pioniere.
Muss das sein?
„Deckung! Hat die Achtsamkeitswelle auch Sie schon erfasst? Falls nicht, könnte es ratsam sein, sie an sich vorbeirauschen zu lassen“, lautete eine provokante Überschrift aus brandeins. Der Beitrag, den Herr Jörg Bergmann im August in brandeins veröffentlichte, hat mich veranlasst in den Leserbriefen Stellung zu nehmen. Über den abgedruckten kurzen Leserbrief hinaus gibt es noch ein bisschen mehr zu sagen.
Ich fand es sehr schade, dass ein so renommiertes Wirtschaftsjournal provokativ und oberflächlich Achtsamkeit betrachtet. Das hat das Thema einfach nicht verdient. Und es wäre wirklich schade, wenn sich Menschen von dieser Aussage beeinflussen lassen würden.
Achtsamkeit fußt nicht auf Plattitüden. Achtsamkeit ist keine Entspannungstechnik, keine Einmalsache, keine Schnellmethode zwischendurch, kein esoterisches Geplänkel, keine Religion. Achtsamkeit ist eine Lebenshaltung – zu sich selbst und zu anderen. Und sie wirkt sich in unserem Alltag konkret aus. Um diese Haltung zu erreichen, braucht es Zeit. Es gibt Übungen, die einen dort hinführen. Und wir sollten jeden unterstützen, der sich auf den Weg macht, die Achtsamkeit für sich zu erforschen. Es würde unserem Zusammenleben sehr gut tun.
Ich kann ihn verstehen
Ich kann den Grundtenor des Artikels von Herr Bergmann durchaus unterschreiben: Achtsamkeit ist kein Allheilmittel, keine neue Technik, die in Unternehmen zu mehr Effizienz führen soll, keine Psychotherapie.
Der Artikel geht allerdings zu sarkastisch und oberflächlich mit dem Thema um. Eine Haltung, die im starken Gegensatz zur Achtsamkeit steht. Denn hier versuchen wir Wertungen und Urteile durch Beobachtungen zu ersetzen. Damit schaffen wir es, dass sich jeder sein eigenes Bild machen darf. Natürlich kreiert Achtsamkeit unterschiedliche Bilder in uns. Eines davon hat Herr Bergmann in seinem Artikel gezeichnet.
Es gibt Gott sei Dank auch andere Meinungen
Es gibt auch andere Stimmen, die Achtsamkeit als hilfreich in ihrem Leben empfinden, weil sie lernen ruhiger und besonnener zu reagieren, Gelassenheit zu empfinden, Entspannung zu erleben, glücklich zu sein oder mit Krisen besser umgehen zu können etc.
Aus diesem Grund möchte ich gerne darauf eingehen, was Achtsamkeit für mich, als Coach, Therapeutin, aber hauptsächlich als Mensch bedeutet. Achtsamkeit kann uns helfen unser berufliches und privates Leben besser zu leben.
Was erhoffen sich Menschen von Achtsamkeit?
Doch was heißt das? Was bedeutet es konkret für Menschen, beruflich besser zu leben? Viele assoziieren es mit weniger Überforderung, klare Kommunikation mit Kollegen und der Möglichkeit, die eigene Kraft besser einschätzen zu können. Sie wollen lernen sinnvolle Pausen zur richtigen Zeit zu machen, sich weniger zu ärgern, entspannter und wertschätzender mit ihrem Team zu arbeiten, auch mal Nein sagen können und Ziele einzuhalten.
Und auf privater Ebene? Hier äußern viele meiner Klienten folgende Wünsche: Besserer Schlaf, mehr Gelassenheit, weniger Ärger ausgeliefert zu sein, entspannte Beziehungen zu führen, mehr Lebensfreude zu erleben, Gedankenspiralen zu stoppen. Um nur ein paar Beispiele zu nennen. Wie unterstützt uns Achtsamkeit dabei?
Achtsamkeit ist etwas, das jeder von uns schon erlebt hat. Viele meist eher zufällig, nicht bewusst. Ich meine die Momente des Flows, der absoluten Konzentriertheit, in dem man im Hier und Jetzt aufgeht. Momente, in denen wir vorsichtig und achtsam mit Dingen und Personen umgehen.
Hier und Jetzt – Was ist der Trick?
Und wenn ich Sie jetzt frage, wie Sie sich dabei gefühlt haben, könnte es sein, dass Sie etwas antworten wie: angenehm, authentisch, zeitlos, präsent. Wie schön! Ein Zustand von dem man mehr haben könnte, finden Sie nicht?
Warum geht es den Menschen in diesen Momenten besser oder zumindest anders? Der Trick ist das HIER und JETZT. Und wie oft sind wir im JETZT?
Wer ausprobiert eine Minute still zu sitzen wird sehen, dass das Gehirn ständig Gedanken produziert. Entweder Gedanken für die Zukunft: Planen, Sorgen oder Wünsche. Oder Gedanken aus der Vergangenheit: Ärger, Wut oder anderen Emotionen. Unsere Gedanken sind dann nicht im Jetzt. Das aber ist der Schlüssel, um in den besagten Flow zu kommen.
Jon Kabat Zinn, der Vater der Achtsamkeitsbewegung MBSR, beschreibt die Essenz von Achtsamkeit: Achtsamkeit bedeutet bewusst im gegenwärtigen Moment zu sein, ohne zu bewerten. Und das können wir trainieren.
Wie Achtsamkeit uns bei Entscheidungen helfen kann
Noch etwas passiert: Wenn wir gelernt haben, den Moment jetzt zu erleben – also nicht in Gedanken in der Zukunft oder in der Vergangenheit zu sein – können wir im Moment jetzt innehalten. Dort eröffnet sich ein Möglichkeitsraum an Entscheidungen. Achtsamkeit bedeutet also auch, den Raum zwischen Reiz und Reaktion für bewusste, authentische Entscheidungen zu nutzen.
Auf der geistigen Ebene gewinnen wir Gelassenheit, können unsere Emotionen besser regulieren, haben einen bewussteren Umgang mit schwierigen Emotionen, wie Wut oder Ärger, entdecken wieder das Schöne im Leben und können über eine gesteigerte Wahrnehmung unsere Genussfähigkeit steigern.
Auf der körperlichen Ebene können wir Veränderungen feststellen, wie Verspannungen lassen nach, das Immunsystem wird gestärkt, der Blutdruck sinkt, wir empfinden einen leichteren Umgang mit körperlichen Defiziten, haben ein besseres Körperempfinden, können unser Kräfte besser einteilen. Viele Studien haben das mittlerweile intensiv erforscht.
So viel Potential
Auch auf der sozialen Ebene kann sich durch eine achtsame Haltung viel verändern. Es zeigt sich in einem wertschätzenden, klaren, authentischen Umgang mit Personen und Situationen. Jeder der begonnen hat, sich intensiver mit Achtsamkeit auseinander zu setzen, bemerkt positive Veränderung im Umgang in Beziehungen, seien es nun die Kinder oder die Kollegen.
Achtsamkeit wirkt von innen nach außen. Achtsamkeit kann nur bei einem selber beginnen: Es ist erst mal ein Blick auf uns selber. Aber es ist keine Nabelschau im negativen Sinne, wie das Herr Jörg Bergmann in seinem Artikel beschrieben hat. Es ist ein Prozess.
Nabelschau kann hilfreich sein
Ja, am Anfang schauen wir nur auf uns. Wir lernen uns und unsere Grenzen kennen. Wir lernen unsere Bewertungen kennen und lernen neue Horizonte in unseren Verhaltensmöglichkeiten. Ganz automatisch verändert sich dadurch auch unser Umgang mit anderen Menschen und der Umwelt. Wir gehen bewusster mit allem um, denn jedem Verhalten geht eine Entscheidung dafür voraus. Entscheidungen, die wir mit Achtsamkeit bewusst treffen können.
Wir beginnen uns selber Raum zu geben und damit auch anderen Menschen. Achtsamkeit ist keine egoistische Einbahnstraße. Die Kommunikation wird wertschätzender, nicht mehr so wertend oder teilweise verletzend. Das Miteinander kann sich nach und nach verbessern, auch im Team, in der Familie, im Umgang mit unseren Kindern.
Wir nehmen wahr statt zu beurteilen, dadurch entsteht Raum und Entfaltungsfreiheit für den anderen. Verteidigung ist nicht mehr notwendig. Wir hören bewusster zu, wir kommunizieren bewusster. Beziehungen werden klarer und qualitativer, wir werden toleranter, ausgeglichener, zuverlässiger, kreativer, offenerer, fokussierter, lösungsorientierter.
Achtsamkeit als Trend?
Und je mehr Menschen in einem Team, in einer Familie, in Beziehung zu Kunden und Lieferanten diese Haltung pflegen und bewusst zur Kultur werden lassen, desto besser wird das Miteinander.
Ja, Achtsamkeit ist ein Trend. Ja man muss aufpassen, dass es kein Oberflächen-Polish ist. Achtsamkeit braucht Nachhaltigkeit, eine Gemeinschaft von Menschen, die eine ähnliche Haltung zum Leben hat. Und es braucht eine Intention. Die Intention zu sich und zu anderen freundlich und wertschätzend zu sein, mit all den Fehlern, die wir noch mit uns rumschleppen. Raus aus den Bewertungen – auch aus der Bewertung: War ich heute achtsam genug?
Jeder neue Moment zählt. Ich wünsche allen Skeptikern sehr, dass Sie den Zauber der Achtsamkeit auch mal schnuppern. In diesem Sinne: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.
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