Foto: Karolina Krausser
Foto: Karolina Krausser

„Die Politik hat Familien wie unsere vergessen“

Viele freuen sich auf die Impfung gegen Corona. Doch es gibt Familien, die in den Impfplänen der Bundesregierung nicht vorkommen. Wie die Familie von Magdalena. Ein Protokoll

Wir sind seit zehn Monaten zu Hause, in Isolation. Und in ständiger Angst vor einer Infektion mit dem Corona-Virus. Wir – das sind mein Mann, unsere beiden Töchter Amalia und Victoria und ich, Magdalena.

Amalia ist acht Jahre alt, Victoria vier. Victoria ist ein fittes und glückliches Kindergartenkind. Amalia ist umfassend behindert, die Ursache dafür ist eine Gehirnfehlbildung. Sie hat ungefähr den Entwicklungsstand eines zwei Monate alten Säuglings. Amalia kann nicht laufen, nicht sitzen und nicht sprechen, sie kann aber meistens selbständig atmen. Und sie kann weinen und wundervoll lachen. 

Amalia ist extrem anfällig für Atemwegsinfekte. Zuletzt lag sie im Mai 2019 mit einer Lungenentzündung fast drei Wochen beatmet auf der Intensivstation. Die Ärztinnen und Ärzte waren nicht sehr optimistisch; sie hat es mit Ach und Krach überlebt. Das Virus, das sie damals hatte, ist für die meisten Menschen nicht sehr gefährlich. Für Menschen wie Amalia aber doch. So wie COVID-19. Amalias Ärztinnen und Ärzte sind daher sehr besorgt. Sie denken, dass unsere Tochter eine Corona-Infektion vermutlich nicht überleben würde.

Deshalb müssen wir immer sehr vorsichtig sein. Normalerweise geht Amalia in die Schule und Victoria in den Kindergarten. Ich arbeite in Teilzeit als Anwältin, mein Mann arbeitet in Vollzeit als Anwalt. Unser Alltag ist voll durchorganisiert. Wir werden von zwei Intensivpflegediensten unterstützt, unter der Woche um die 18 Stunden pro Tag, am Wochenende nur nachts. Die Krankenschwestern kommen zu uns nach Hause, gehen mit Amalia zur Schule oder bleiben mit ihr zu Hause, wenn es ihr nicht gut geht. Und wir können ins Büro fahren. Normalerweise.

Nicht mehr als fünf Stunden Schlaf

Seit Corona ist alles anders. Seit im letzten März die Infektionszahlen anstiegen, sind Amalia und Victoria den ganzen Tag zu Hause. Nur im Sommer war Victoria für ein paar Wochen im Kindergarten. Das Risiko einer Ansteckung ist zu groß. Mein Mann und ich arbeiten seit Februar auch nur noch von zu Hause. Um alles zu schaffen, stehe ich morgens gegen fünf Uhr auf. Ich schlafe unter der Woche nicht mehr als fünf Stunden pro Nacht. 

Tagsüber kümmere mich um Victoria, den Haushalt, alles mögliche Organisatorische und arbeite, so viel es eben geht. Victoria hat gelernt, dass sie still sein muss, wenn Mama telefoniert. Immer funktioniert das allerdings nicht. Die Tagschwester für Amalia bleibt unter der Woche meistens bis 16 oder 17 Uhr, anschließend kümmern wir uns um Amalia, bis um 22 Uhr die Nachtschwester kommt.

Im August hat eine Krankenschwester das Virus mit zu uns ins Haus gebracht. Ich hatte auf einmal auch Halskratzen und große Sorge, dass ich mich angesteckt haben könnte. Oder Amalia. Das Gesundheitsamt stellte uns unter Quarantäne. Da waren wir aber sowieso schon seit Monaten isoliert. Viel schlimmer war, dass ich mich dann auch noch vom Rest der Familie isolieren musste.

Die Maske hat uns gerettet

Mein Mann musste die Versorgung der Kinder alleine übernehmen und sofort aufhören zu arbeiten. Am Ende waren unsere Tests zum Glück alle negativ, obwohl die Krankenschwester sehr engen Kontakt zu Amalia hatte. Dabei hatte sie aber immer eine Maske auf. Das hat uns wohl gerettet.

Zu der Zeit musste ich einsehen, dass ich das so auf Dauer nicht durchhalte. Ich habe dann meine Arbeitszeit reduziert. Zum Glück ging das mit meinem Arbeitgeber.

„Familien wie wir spielen in der öffentlichen Diskussion keine Rolle.“

Magdalena

Außer den Krankenschwestern lassen wir keinen Besuch in unser Haus, auch nicht meine Eltern und Geschwister. Die Einkäufe lassen wir uns liefern. Ich mache keinen Sport mehr. Wir sind alle immer hier. Zur Post oder auf den Spielplatz gehen wir nur zu Zeiten, wenn dort möglichst sonst keine Menschen sind. 

Was ist mit Familien, die nicht das Glück haben?

Dabei haben wir noch Glück: Wir haben für die Isolation die perfekten Bedingungen. Wir haben ein Haus mit Garten und können von zu Hause aus arbeiten. Ich frage mich: Was ist mit anderen Familien, die das nicht haben und die sich seit Monaten isolieren müssen?

Am meisten vermissen wir den Kindergarten. Victoria jetzt schon fast ein Jahr eingesperrt zu haben, ist für mich das Schlimmste. Neben der großen Sorge, dass Amalia sich mit dem Virus infiziert. Wenn Victoria aus dem Garten andere Kinder sieht, fragt sie: „Warum darf ich nicht mit den Kindern spielen?“

Familien wie wir spielen in der öffentlichen Diskussion keine Rolle. Gelegentlich liest man in der Presse, dass Familien mit schwerstbehinderten oder chronisch kranken Kindern sich total isolieren. Mehr nicht. Was das genau bedeutet, wird nicht gesagt. Wir sind unsichtbar. Wir haben aber auch schon ohne Pandemie kaum Ressourcen, auch noch Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Mit dem Virus ist die Belastung noch höher. 

„Victoria jetzt schon fast ein Jahr eingesperrt zu haben, das ist für mich das Schlimmste.“ 

Und die Politik? Die hat Familien wie uns offenbar vergessen.

Wir haben große Hoffnung in den Impfstoff gesetzt. Ich nahm wie selbstverständlich an, dass man bei den Impfplänen auch Kinder mit schweren Vorerkrankungen berücksichtigen würde. Ich lag – wie viele andere Eltern von behinderten Kindern – falsch. Es wird zwar eine Impfung geben – aber nicht für Kinder. Und zwar für keins. Egal, wie hoch das Risiko eines schweren Verlaufs ist.

Keine Impfung für Kinder

Laut RKI werden Kinder nicht berücksichtigt, weil die Impfstoffe „bei Kindern und Jugendlichen noch nicht genügend auf Wirksamkeit und Sicherheit untersucht werden konnten“. Der Fokus werde zunächst auf diejenigen gelegt, die am schwersten an COVID-19 erkranken, insbesondere Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen. Kita- und Grundschulkinder würden nach allem, was bisher bekannt ist, weniger häufig und stark erkranken als Erwachsene. Dabei fallen Kinder mit einem hohen Risiko eines schweren Verlaufs wie Amalia und ihre Familien durch das Raster.

Also habe ich Briefe und Mails geschrieben. An das Bundesgesundheitsministerium, an das Hessische Ministerium für Soziales und Integration und an die Ständige Impfkommission. Ich wollte wissen, ob Fälle wie unserer bei der Verteilung des Impfstoffs berücksichtigt werden.

Die Antwort des Bundesgesundheitsministeriums war wenig hilfreich: Grundsätzlich liegt die Zuständigkeit für die Organisation der Impfungen bei den Bundesländern.

Das Hessische Ministerium für Soziales und Integration antwortete, dass eine Impfung außerhalb der Zulassung erst dann in Betracht komme, wenn größere Mengen des Impfstoffs zur Verfügung stehen. Erst sei die besonders vulnerable Risikogruppe dran. Als ob Amalia nicht dazugehören würde.

Briefe und (Nicht-)Antworten

Aber immerhin schrieben sie: Zusätzlich haben wir Ihr Anliegen zum Anlass genommen, die zuständigen Behörden auf Bundesebene darum zu bitten, chronisch kranke Kinder bzw. deren enge Kontaktpersonen in den Überlegungen zu Empfehlungen zu berücksichtigen.

Die Bundesbehörde hatten mich zwar gerade an die Landesbehörde verwiesen. Aber gut. Und die STIKO? Hat gar nicht geantwortet.

Für uns wäre die Impfung von Amalia im Off-Label-Use die einzige echte Perspektive. Über eine solche Impfung außerhalb der Zulassung entscheidet grundsätzlich die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt. Und wenn die*der ein hohes Risiko eines sehr schweren oder tödlichen Verlaufs einer Infektion feststellt und sie oder er eine Impfung aus medizinischer Sicht befürwortet, muss der Impfstoff schnellstmöglich zur Verfügung gestellt werden. Und nicht erst in Monaten.

Eine andere, wenn auch unsicherere Möglichkeit wäre, wenigstens das engste Umfeld von Kindern wie Amalia mit höchster Priorität zu impfen. So könnte man versuchen, diese Kinder vor einer Ansteckung zu schützen. Leider wurden wir Eltern als “enge Kontaktpersonen” einer pflegebedürftigen, lernbehinderten Tochter nach der Impfverordnung aber nur in der zweiten Gruppe der Impfberechtigten berücksichtigt. Wir sollen also erst einmal abwarten, bis über acht Millionen Menschen der ersten Gruppe geimpft sind.

Bei der aktuellen Impfstoffknappheit müssen wir also möglicherweise bis zum Sommer 2021 warten und uns weiter isolieren. Weiterhin zu Hause bleiben, jeden Tag, mit den Kindern. Und jeden Tag kann das Virus zu uns kommen.

Foto: Karolina Krausser

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