„Ich sage euch, was Freiheit für mich bedeutet: Ohne Angst zu leben.“ Dieses Zitat von Nina Simone ist das Motto des bei Hanser erschienenen Textes „Gegen Frauenhass“. Die Autorin Christina Clemm widmet ihn „all denen, die sich täglich dem Hass entgegenstellen.“
Die Zahlen zu häuslicher Gewalt steigen Jahr für Jahr und schocken uns regelmäßig für einen schnell vorbeiziehenden Moment. Fast alle zwei Minuten erfährt in Deutschland ein Mensch häusliche Gewalt. Vier von fünf von Partnerschaftsgewalt Betroffenen sind Frauen, 80 Prozent der Täter sind Männer. Jede Stunde erleiden mehr als 14 Frauen Partnerschaftsgewalt. Beinahe jeden Tag versucht ein (Ex)-Partner eine Frau zu töten. Kurz: Die psychische und physische Gewalt gegen Frauen ist Alltag, wir alle leben mit ihr – es ist fast Gewohnheit.
Wir sprachen im Interview mit Christina Clemm über normalisierten Frauenhass, echte Prävention in Schulen, über die Hermetik der Kleinfamilie und die von ihr ausgehende Gefahr. Und wir sprachen darüber, was ganz konkret getan werden kann, damit sich grundlegend etwas ändert.
Der Buchtitel „Gegen Frauenhass“ auf dem Cover ist groß, wütend, direkt. Als wollten Sie das alles, womit Sie seit über 30 Jahren im Rahmen ihrer Arbeit konfrontiert sind, noch einmal klar und laut in die Welt schreien, damit es endlich gehört wird.
„Tatsächlich ist mein Gefühl dazu: Ich knall euch diesen Text hier noch einmal auf den Tisch. Viel zu viele haben immer und immer wieder darum gebettelt, dass sich ein kleines bisschen was verändert, dass endlich ernsthaft das Problem der geschlechtsbezogenen Gewalt angegangen wird. Am 25. November sind immer wieder viele kurz erschüttert über das Ausmaß der Gewalt, ansonsten kümmert es wenige. Ich will aber, dass die Menschen wirklich hinsehen – dass sie sehen, was alltäglich passiert. Ich möchte, dass die Strukturen verstanden werden, auf denen dieser Frauenhass beruht. Die Bekämpfung einiger Symptome und Auswirkungen hilft auf Dauer nicht. Forderungen nach härteren oder weiteren Strafen verändern am Ende nichts, wir sollten das Problem endlich an den Wurzeln packen.“
Veränderung versprach die Istanbulkonvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt), die seit 2018 auch für Deutschland gilt. Das hat erst mal Hoffnung gemacht. Aber nach der Hoffnung kam die Ernüchterung. Hat sich seither überhaupt etwas getan?
„Ich würde sagen: langsam, langsam, langsam. Wenn es ums Recht geht, kann es lange dauern, bis das implementiert ist, also bis es tatsächlich auch angewandt wird. Aber sie muss angewandt werden. Wir haben durch die Istanbulkonvention Hebel, um etwa mehr Frauenhausplätze, mehr Frauenberatungsstellen durchzusetzen, da reicht das Argument der Geldknappheit nicht aus. Deutschland hat sich verpflichtet, die Regelungen der Istanbulkonvention anzuwenden, wir werden die vollständige Umsetzung immer weiter einfordern.“
Ihr Buch heißt: „Gegen Frauenhass“. Wie verankert ist der aktuell in unserer Gesellschaft?
„Erst einmal muss ich vielleicht erklären, was ich unter Frauenhass verstehe. Denn Hass könnte ja eine plötzlich aufkommende, schwer kontrollierbare Emotion meinen. Es ist auch die Frage, ob der Begriff Frauenhass oder eher patriarchaler Hass richtig ist. Ich verstehe unter Frauenhass die emotionale Gewohnheit der Frauenverachtung, die einen nicht von ungefähr plötzlich überkommt, sondern vielmehr so normalisiert im binären Geschlechterverhältnis ist, dass Frauen abgewertet werden. Dass Frauen bestimmte Rollen haben, dass es eben in Ordnung ist, all diese frauenverachtenden Dinge zu denken und danach zu handeln. Selbstverständlich würde niemand sagen, dass man Frauen umbringen, vergewaltigen oder schlagen darf. Aber dass dies andauernd passiert, ist so gewöhnlich, dass man die Gewalt gegen Frauen eben schulterzuckend hinnimmt, als sei sie naturgegeben.“
Sie schreiben, dass es vor allem Frauen sind, die Ihre Lesungen besuchen – kaum Männer. Dabei setzen sich gegenwärtig viele Männer literarisch mit dem Aufwachsen im Patriarchat auseinander, die „kritische Männlichkeit“ ist in aller Munde.
„Es ist sehr gut, dass es diese Bücher gibt, aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, inwiefern diese Bücher dann auch von Männern gelesen werden oder ob deren Lesungen auch vor allem vor weiblich gelesenem Publikum stattfinden.
Neulich hat eine Person mein Buch gepostet und dazu geschrieben: ,Ich schenke dieses Buch nicht meinen Freundinnen, sondern meinen Freunden.’ Und ich würde auch sagen, es ist eigentlich Pflichtlektüre für Männer, es ist eine Pflicht, dass sie sich damit auseinandersetzen. Das ist vergleichbar mit der Beschäftigung mit Rassismus: Wenn man durch dieses System privilegiert ist, dann kann man das Problem ja einfach ignorieren, dann muss man sich nicht damit beschäftigen, dabei sollten wir weißen deutschen Menschen ohne eigene Migrationsgeschichte verpflichtend rassismuskritische Bücher lesen.
„Wenn man durch dieses System privilegiert ist, dann kann man das Problem ja einfach ignorieren, dann muss man sich nicht damit beschäftigen.“
Ich glaube auch, dass sich viele Männer die Unterschiedlichkeit unserer Lebensweisen, unseres Alltags nicht einmal bewusst machen, sondern insofern ignorant durchs Leben gehen können. Viele Männer wissen etwa nichts darüber, wie unterschiedlich wir uns im öffentlichen Raum bewegen, dass alle weiblich gelesenen Personen sich unablässig um ihre Sicherheit kümmern müssen, dass sie darum kämpfen müssen, einerseits gesehen und andererseits nicht abgewertet zu werden. Solange sich Männer nicht mit der Lebenswirklichkeit von Frauen beschäftigen, indem sie eben entsprechende Bücher lesen oder wirklich zuhören müssen, können sie sich weiter ,um die wirklich wichtigen Dinge im Leben kümmern’ und sich auf und mit ihren Privilegien ausruhen.“
Das erinnert mich an den TikTok Trend: Junge Frauen tragen weite „Subway Shirts“ aus Angst vor Belästigung. Wir bringen Mädchen bei, dass sie Angst haben müssen, statt den Jungs bzw. Söhnen beizubringen, Frauen nicht zu schlagen, nicht zu vergewaltigen. Wie mache ich das bei meinem 7-jährigen Sohn, während Kita und Schule von den alten Strukturen geprägt sind?
„Ja, das wüsste ich auch gerne. Also ich kann sagen, ich habe ja selbst auch drei Kinder, und wir haben uns immer sehr bemüht, sie eben in diesem Gesellschaftssystem anders zu erziehen. Wir sind aber ja selbst auch in dieser Gesellschaft geprägt und leben nicht in einem luftleeren Raum. Natürlich werden andauernd bestimmte Vorstellungen von Geschlechterrollen an sie herangetragen. Es wäre also wichtig, schon in der Kita andere Rollenbilder zuzulassen und Kinder statt Jungs und Mädchen zu begleiten und erziehen. Andere Vorbilder sein, zeigen, dass alle Menschen die Grenzen anderer zu wahren haben, dass alle emotional, aber auch lebendig, kräftig, forsch und fürsorglich sein dürfen. Und es wäre wichtig, von klein auf geschlechtsbezogene Gewalt wie auch Rassismus zu thematisieren und zu problematisieren.
„Es wäre wichtig, schon in der Kita andere Rollenbilder zuzulassen und Kinder statt Jungs und Mädchen zu begleiten und erziehen.“
Es gibt ja zum Beispiel die Tendenz, Jungs viel schneller zu bestrafen oder gar aus der Schule zu werfen, wenn sie gewalttätig geworden sind. Die sollen schon Kerle sein, aber wenn sie es zu doll treiben, dann will niemand mehr was mit ihnen zu tun haben. Aber es wäre wichtig, genau damit zu arbeiten und eben positive Vorbilder, andere Umgangsweisen zu lehren wie etwa, um nur einige zu nennen, niemanden abzuwerten, andere anzuerkennen, andere nicht zu schädigen, Konsense zu suchen, nach Gemeinsamkeiten zu suchen, nicht nach Konkurrenz zu streben. Wir könnten an einem anderen Menschenbild arbeiten, und dadurch viel größere Freiheit für alle schaffen. So wie es jetzt läuft, sind Kinder oft schon im Kitaalter nur noch in der Lage, mit ihren Geschlechtsgenoss*innen zu spielen, sind auf bestimmte Spielarten begrenzt und können viel weniger Vielfalt leben, als möglich wäre.“
Nur sieht der Alltag in Schulen eben anders aus. Diese Arbeit muss jetzt in alle Schulen kommen, damit wir gesamtgesellschaftlich etwas verändern können.
„Genau. Bei meinen Kindern zum Beispiel kam irgendwann mal ein Polizist und hat erklärt, dass man nicht mit fremden Männern mitgehen darf. Das ist wichtig, aber es ging leider in keiner Sekunde darum, was zu Hause passiert und dass statistisch dort die größten Gefahren lauern. Wir gehen davon aus, dass sich in jeder Schulklasse drei bis vier Kinder befinden, die häusliche Gewalt erleben. Viele Kinder denken sogar, sie seien irgendwie schuld daran, dass der Vater die Mutter schlägt und dass so etwas nur in der eigenen Familie passiert.
„Wir gehen davon aus, dass sich in jeder Schulklasse drei bis vier Kinder befinden, die häusliche Gewalt erleben.“
Es ist wichtig, den Kindern in den Schulen viel mehr Räume zum Sprechen zur Verfügung zu stellen, um intervenieren zu können – das wäre Prävention. Und dies in allen Lebensaltern wiederholen, sensibilisieren, aufklären. Täterstrukturen benennen, Solidarität mit den Opfern einfordern. Von der Kita, über die Schule, im Ausbildungsbetrieb, im Studium, in Betrieben bis hin zu Seniorenunterkünften. Denn die Gewalt kann alle treffen, unabhängig vom Alter.
Leider aber passiert das gerade nicht, die Verfestigung der Geschlechterstereotype schreitet meinem Empfinden nach sogar eher voran.“
Das empfinde ich ähnlich. Meiner Tochter wird am ersten Schultag gesagt, Mathe sei nicht so wichtig. Meinem Sohn wurde in der Kita gesagt, er sei ein Junge und Jungs weinen nicht.
„Und dabei gab es schon so gute Ideen, dass man zum Beispiel in diesen MINT-Fächern anders fördert oder andere Leitbilder aufmacht. Oder auch im Sportunterricht, dass es nicht um Leistung, sondern um Anstrengung geht und die Menschen mit ihren unterschiedlichen körperlichen Fähigkeiten gesehen und bewertet werden. Naja, Schule ist ein großes Thema, denn statt notwendige Ressourcen hineinzustecken und neue Ansätze zu etablieren, arbeiten die Schulen am Rand ihrer Kapazitäten.“
Emilia Roig fordert in ihrem Buch „Das Ende der Ehe“ eine Revolution der Liebe. Wie könnte die aussehen – eine Revolution der Liebe?
„Mein Idealbild ist ja, dass alle Menschen so leben können sollten, wie sie es möchten – ob in der Ehe oder in der Kleinfamilie oder in anderen Lebensformen.. Eine Familie kann ja auch bedeuten, dass es drei Elternteile gibt oder vier oder fünf Personen, die für die Kinder wichtige Bezugspersonen sind, das sollte jedem Menschen freigestellt sein. Und wenn man alleine leben möchte mit Kindern oder ohne Kinder – alles gut. Wichtig ist, dass es freiwillig geschieht, dass es konsensual ist für alle. Jede Form des Zusammenlebens birgt immer Probleme, die gelöst werden müssen.
Das gängige Modell ist die heterosexuelle Kleinfamilie. In anderen Lebensformen zu leben ist unglaublich schwer, weil die Kleinfamilie so massiv von diesem Staat gestützt und gefördert wird. Dabei sollte beachtet werden, dass das Zusammenleben in einer Kleinfamilie besondere Gefahren mit sich bringt, immerhin ist der eigene Ehemann statistisch für eine Fau der gefährlichste Mensch. Deshalb muss man, wenn man Prävention ernst nimmt, mehr in die Familie hineinsehen dürfen, sie öffnen, sie nicht für so privat erklären, dass sie vollständig verriegelt ist. Da wir wissen, dass Partnerschaftsgewalt häufig mit Isolation der Betroffenen einhergeht, sollte es misstrauisch machen, wenn man dies bei einer Freundin oder Bekannten beobachtet. Es ist immer gut, wenn es nahe Bezugspersonen außerhalb gibt, seien es Freund*innen oder Verwandte.“
„Statistisch ist der eigene Ehemann für eine Frau der gefährlichste Mensch.“
Gehört dazu auch, dass wir insgesamt aufmerksamer werden? Dass die Wände keine hermetischen Systeme beschreiben, sondern eben nur Wände sind, die man zur Not auch einreißen kann. Wir alle kennen Täter und tun nichts, obwohl es nebenan passiert.
„Ich glaube, man muss es herumdrehen. Es reicht nicht, die Opfer aufzufordern, sich zu wehren und ihr Schweigen zu brechen. Eigentlich muss die gesamte Gesellschaft ihr Schweigen brechen. Ja, man muss sich einmischen! Die Betroffenen haben oft viele, viele gute und leider wichtige Gründe, nicht laut zu werden, sich nicht zu trennen. Oft ist es die Sorge, sonst nicht zu überleben.
Aber Nachbar*innen, Freund*innen, die Großeltern – das Umfeld trägt auch eine Verantwortung. Es ist nicht so, dass man es so gar nicht mitkriegt, häufig hat man doch zumindest so ein Gefühl, dass da etwas schief läuft. Wir sprechen immer von der Scham der Betroffenen. Ja, aber offenbar gibt es auch die Scham des Umfelds. Man mischt sich ungern ein, es ist unangenehm und vielleicht auch mit Angst verbunden: Was wird passieren, wenn ich einen potentiellen Täter anspreche, sage, dass ich das Gefühl habe, er macht etwas falsch. Und wie schlimm wäre es, wenn ich jemanden falsch verdächtigen würde?
„Die Betroffenen haben oft viele gute und leider wichtige Gründe, nicht laut zu werden, sich nicht zu trennen. Oft ist es die Sorge, sonst nicht zu überleben.“
Wenn der Verdacht falsch war, umso besser. Also nehmen wir mal an, da ist ein befreundetes Paar, ich befürchte, der Mann schlägt seine Frau und ich spreche den Mann darauf an und der sagt: ,Ne, totaler Quatsch, das siehst du falsch!‘ – und es war tatsächlich falsch. Im Idealfall käme das Paar darüber ins Gespräch, sie würden darüber nachdenken, warum sie so wirken und ob sie nicht vielleicht ein Problem der Abwertung miteinander haben, sie könnten daraufhin etwas verändern.
Wenn es aber tatsächlich Gewalt gibt, ob physische oder psychische Gewalt, dann ist es besonders wichtig, dies anzusprechen. Dann sollte man der Betroffenen Zeichen geben, dass man da ist, solidarisch ist, dass man stets ansprechbar ist, auch wenn sie in diesem Moment vielleicht nicht sprechen will oder kann. Aber es wäre eben auch wichtig, endlich mal die Täter anzusprechen, selbstverständlich nach Abschätzung des Gefahrenpotentials für die Betroffene. Aber sie dürfen sich nicht so sehr in Sicherheit wiegen, wie sie es gerade können. Häufig wissen sie, dass viele die Gewalt mitbekommen, sie aber sicher sind.“
„Es wäre eben auch wichtig, endlich mal die Täter anzusprechen. Sie dürfen sich nicht so sehr in Sicherheit wiegen, wie sie es gerade können.“
Was sind die häufigsten Gründe für die Gewalt, die von Männern gegen Frauen ausgeht – und was sagt das über unsere Gesellschaft aus?
„Tatsächlich sind das oft Kleinigkeiten. Die Suppe ist versalzen. Die Schuhe stehen nicht ordentlich an der Eingangstür. Das Klopapier, das sie eingekauft hat, ist nicht weich genug. Sie hat außerhalb der Beziehung eine Affäre oder eine vermutete Affäre. Auch Schwangerschaften sind ein sehr eskalierender Moment in Beziehungen. Karriereschritte der Frauen können eskalierend wirken. Alle Schritte, die die Frauen etwas von dem Partner entfernen, Kleinigkeiten in Richtung Emanzipation. Der gefährlichste Moment ist aber die Trennung.
Wir sehen überall und immer wieder, dass Gewalt legitimiert wird. Das haben wir in der Literatur. Das haben wir in der Musik. Es wird Verständnis aufgebracht oder sie wird überhöht. Immer wieder werden Narrative wiederholt: der verzweifelte, betrogene, verlassene Mann, der seine Impulse nicht kontrollieren kann. Es gehört absurderweise zum Männerbild, das ja eigentlich von Rationalität beherrscht ist. Aber wenn sie Frauen schlagen, vergewaltigen oder töten, flammt ihre große Emotionalität auf, sind sie nicht mehr steuerbar.
„Diese Gewalt hat in der Regel Bestrafungscharakter, folgt dem vermeintlichen Recht, besitzen und bestimmen zu können.“
Es ist Teil der Normalisierung von Gewalt gegen Frauen, Männern in puncto Gewaltausübung ihre Verletzlichkeit zuzugestehen. Selbstverständlich gibt es Verletzungen, dürfen alle verzweifelt und enttäuscht sein, aber das kann nie legitimieren, andere Personen körperlich oder sexuell zu misshandeln. Oder sie zu töten. Diese Gewalt hat nichts damit zu tun, mit der Partnerin auf Augenhöhe zusammenzuleben, sie hat in der Regel Bestrafungscharakter, folgt dem vermeintlichen Recht, besitzen und bestimmen zu können.“
Dieses Narrativ begegnet uns gefühlt täglich: Der Mann rastet vollkommen aus, ist überhaupt nicht mehr zurechnungsfähig, und wenn er sich beruhigt hat und sich entschuldigt, wird ihm das Ausmaß seiner Gewalt erst bewusst.
„So wird es leider immer wieder dargestellt! Aber nein: Viele Frauen werden so erzogen, dass sie immer wachsam sein sollen, immer aufpassen müssen, denn wer sich in Gefahr begibt, ist selber schuld. Oft heißt es, man dürfe den Mann nur nicht reizen, denn ab einem bestimmten Punkt könne er nicht mehr anders, würde sich nehmen müssen, was ihm angedeutet worden sei. Was für ein Unsinn – Männer sind ja keine triebsteuerten Ungeheuer! Männer können sich steuern, können wahrnehmen, registrieren, ob ihr Gegenüber zum Beispiel sexuellen Handlungen zustimmt. Ich bin oft erstaunt über das schlechte Männerbild, verstehe nicht, warum sich nicht viel mehr Männer dagegen wehren.“
Welche Verantwortung tragen die Medien, wenn es um das Berichten über Femizide geht?
„Es gibt eine große Verantwortung. Natürlich. Man kann von einem Eifersuchtsdrama, einer Liebestragödie schreiben. Oder man beschreibt eben auch die Vorgeschichte von Femiziden: Wie genau sah dieses Familiensystem aus, hat die Frau eigentlich auch vorher schon einmal Hilfe gesucht? Wie genau berichtet man das?
Viel schlimmer ist das meiner Meinung nach in Spielfilmen; da werden überdurchschnittlich viele Femizide erzählt, die unglaubliche Angst machen. Und bei all dieser Brutalität werden diese Frauenmorde dann immer noch irgendwie ästhetisch schön dargestellt, da hat man dann immer diese ,schönen’ Frauenleichen auf dem Obduktionstisch. In der Realität ist es anders, die Morde sind häufig brutal und hinterlassen sehr hässliche Spuren. Es gibt ein wahnsinnig voyeuristisches Interesse an Gewalt gegen Frauen, man kann hohe Quoten damit erzielen.
„Man könnte auch in Deutschland immer dann, wenn es wieder einen Femizid gab, ein Band unter den Tagesthemen laufen lassen, einfach um darauf aufmerksam zu machen: Es ist schon wieder passiert!“
Aber wir müssen dem andere Narrative entgegensetzen. Warum gibt es so wenig Erzählungen über Frauen, die sich zur Wehr setzen, die überleben, die den Tätern entgegentreten, aber auch diejenigen, die das echte Leid erzählen, die Scheußlichkeit und Brutalität der Angriffe, die massiven Folgen für die Frauen, aber eben auch etwa der Kinder. In Spanien zum Beispiel wird regelmäßig über Femizide berichtet.
Ich finde, man könnte in Deutschland immer dann, wenn es wieder einen Femizid gab, ein Band unter den Tagesthemen laufen lassen, einfach um darauf aufmerksam zu machen: Es ist schon wieder passiert! – Man könnte hier auch abbilden, wie viele Anzeigen es im letzten Monat wegen Gewalt gegen Frauen gegeben hat. Das hätte eine Kontinuität – statt jedes Jahr am 25. November zu sagen: Oh Gott, jetzt sind wir alle erschüttert!“
Die folgenden Sätze hören wir in Bezug auf das Thema häusliche Gewalt immer wieder. Ich würde Sie bitten, darauf zu reagieren:
„Ein Mann, der schlägt, muss ja kein schlechter Vater sein.“
„Das ist falsch. Er ist es. Weil er dadurch zum einen zeigt, dass er die andere Betreuungsperson, diese so wichtige Person für seine Kinder, derart erniedrigt, misshandelt und in Gefahr bringt. Und er gibt Kindern eine Idee von Gesellschaft oder von dem Zusammenleben, das gewalttätig ist, das dürfen Kinder nicht erlernen. Und Männer, die Gewalt ausüben, sind auch schlechte Väter, weil sie Kindern unglaublich Angst machen.“
„Warum geht sie denn nicht?“
„Es gibt viele Gründe. Das kann sein, weil sie um ihr Leben fürchten muss. Weil sie noch mehr Gewalt befürchten muss. Weil sie vielleicht finanziell und ökonomisch abhängig ist. Weil sie durch eine jahrelange gewalttätige Beziehung möglicherweise gar nicht mehr das Selbstbewusstsein hat, um andere Schritte zu gehen. Weil sie vielleicht so isoliert ist, dass sie keine Unterstützung hat. Weil sie keine Auswege findet. Weil sie lange hofft, dass er sich ändern wird. Weil sie ihm glaubt, weil sie ihm vertraut.. Es gibt 1000 Gründe, leider oft gute.“
„Mir würde das ja nie passieren!“
„Auch das ist schon ein misogynes Narrativ, weil man damit ja irgendwie der Frau auch die Schuld gibt und sich selbst erhebt. Und ich kann nur sagen aus meiner Erfahrung: Alle Frauen, also wirklich völlig egal, wo sie herkommen, wie sie leben, ob sie finanzielle Ressourcen haben oder nicht, erfolgreich in ihrem Beruf sind oder nicht: jeder Frau kann männliche Gewalt widerfahren.“
„Zu Beziehungsproblemen gehören doch immer zwei!“
„Zu Beziehungsproblemen ja. Aber zu Gewalt nicht.“
„Gegen Frauenhass“
Das neue Buch von Christina Clemm – „Gegen Frauenhass“ – ist bei Hanser erschienen und kostet 22 Euro. Support your local Bookdealer!
Betroffene Frauen finden Unterstützung beim Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ unter der Nummer 08000-116 016. Das Hilfetelefon arbeitet mehrsprachig, anonym und kostenlos und ist rund um die Uhr erreichbar.
Betroffene Kinder finden Hilfe unter der Nummer gegen Kummer (Kinder- und Jugendtelefon) 116 111, das von Montag bis Samstag von 14 bis 20 Uhr erreichbar ist. Wenn du lieber nicht mit Erwachsenen, sondern mit Jugendlichen sprechen möchtest, rufe am Samstag zwischen 14 und 20 Uhr an.