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Küssen aus Höflichkeit – und warum damit Schluss sein muss!

Ja sagen, obwohl man Nein meint – wozu zu viel Höflichkeit führen kann und wieso es wichtig ist, unseren Töchtern beizubringen, sich unbeliebt zu machen.

 

Wenn Frauen aus (falsch verstandener) Höflichkeit Dinge tun, die sie nicht tun wollen

Lese-Hinweis: Es geht in diesem Text nicht um Menschen, die missbrauchen. Es geht auch nicht um Victim-Blaming. Wer Nein sagt, muss gehört werden. Aber zwischen einvernehmlichem Sex und sexuellen Übergriffen scheint es noch ein anderes Feld zu geben. Das der Frauen, die aus Höflichkeit etwas tun, dass sie eigentlich nicht tun wollen. Die das aber in keinster Weise zum Ausdruck bringen. Aus Angst, unhöflich zu sein. Um dieses Phänomen geht es hier. Denn sie sind kein Opfer eines Gegenübers, das eine Weigerung nicht akzeptiert. Es gibt in diesen Fällen keinerlei sichtbare Weigerung. Die Frauen, von denen ich schreibe, sind vielmehr Opfer ihres eigenen Wunsches nach Harmonie, ihrer Angst vor Konflikten und einem aus der Bahn geratenen Gefühl, höflich sein zu müssen. Mit diesem Text möchte ich ihre Situation beschreiben, zum Nachdenken anregen und hoffentlich dazu aufrütteln, in Zukunft der Höflichkeit gepflegt den Mittelfinger entgegenzustrecken.

Hä? – denkst du jetzt vielleicht. Wovon redet sie da? Ich lasse mich küssen, wenn ich geküsst werden will und sonst nicht. Das ist wunderbar. Wenn du zu diesen Frauen gehörst, die immer ihrer eigenen Stimme die Priorität geben, kann ich dich herzlich beglückwünschen. Ich weiß, davon gibt es einige und ich bin froh, denn von ihnen können wir lernen. Wer ist wir?

Über ein Treffen mit einer ehemaligen Liebschaft

Nun, fangen wir an – am Frankfurter Bahnhof, an einem mittelwarmen Herbsttag bei Nieselregen. Die Züge fahren ein und aus, Passanten rollen ihre Koffer durch das Menschengewirr, es riecht nach Pommes und Stress. Nicht der beste Ort vielleicht, um sich auf einen Kaffee zu treffen, aber der eng getaktete Zeitplan gibt es so vor. Noch zehn Minuten, dann hält der ICE auf Gleis 8 und S. wird mir auf dem Bahnsteig entgegenkommen, eine ehemalige Liebschaft. Man hatte es nett miteinander, verstand sich am Frühstückstisch genauso gut, wie zwischen den Daunenkissen in der Nacht, keine großen Gefühle, aber schönes Beisammensein. Ein halbes Jahr ist das her, danach sporadische „wie geht es dir und wie läuft es so?“-SMS, keine eindeutigen Zweideutigkeiten, sondern eher harmloses Interesse, wie man es ehemaligen Klassenkameraden gegenüber hegt, die man hin und wieder an einem besonders langweiligen Samstagabend auf facebook stalkt.

Fünfdunvierzig Minuten haben wir zwischen seinem ICE aus Hamburg und der Regionalbahn, die ich um 15.53 Uhr besteigen möchte. Ein bißchen quatschen, sich mal wiedersehen – so ist der Plan, mehr habe ich nicht im Kopf, ich bin nicht nervös, meine Haare sitzen mies und es stört mich nicht, die Nahkampfzone haben wir schon so lange hinter uns gelassen. Sein Zug ist pünktlich, wir umarmen uns im Strom der Heimkehrer und Abschiednehmenden und bahnen uns unseren Weg zum Café. Einen Latte Macchiato und eine Maracjusaftschorle später plaudern wir über unsere Jobs, über unseren Sommer, über unsere Beziehungen. Ganz normaler Smalltalk, wenn man sich ein bißchen besser kennt, aber auch nicht zuviel.

Unhöflich sein oder einfach mitmachen?

Kein verschämtes Lächeln, keine zu tiefen Blicke, keine Berührungen. Für mich kommt es daher ziemlich unvermittelt, als S. sich vertraulich über den Tisch lehnt und meine Hand nimmt. Erster Reflex: wegziehen. Zweiter Reflex: Uh, das wäre sehr unhöflich. Ich lasse meine Hand, wo sie ist und rutsche, peinlich berührt, auf meinem Kunstlederstuhl herum. S. interpretiert mein Verhalten ganz anders, er muss es auch, denn ich sage nicht, was ich denke: „Äh, sorry, aber – was soll das?“. Oder zumindest ein: „Ich möchte das, ehrlich gesagt, nicht.“

Die Zeit spielt für mich, wir müssen los, ich bin wieder Alleinherrscherin über meine Hände und gottfroh darüber. S. begleitet mich zum Zug, auch wenn es mir lieber wäre, er würde es nicht tun, aber auch das sage ich nicht. Vor den Türen der Regionalbahn angekommen, passiert es dann. S. zieht mich an sich und küsst mich. Mein Mund küsst zurück, rein mechanisch. In meinem Kopf schrillen die Alarmglocken, ich will überhaupt nicht geküsst werden, aber wie, wie unterbricht man diese Situation, ohne den anderen vor den Kopf zu stoßen? Wie sagt man „Hör auf“, mitten in einen Mund und ein Lächeln hinein, das ich früher mal unwiderstehlich fand. Unsere Lippen sind alte Bekannte. Meine Zurückweisung könnte zu brüsk sein, er könnte ernsthaft beleidigt sein, es könnte zu peinlicher Stille kommen. Ich könnte seine Ehre und sein männliches Ego kränken. Also stehe ich weiter da, an Gleis 9 und mache Zungengymnastik, die ich eigentlich gar nicht möchte. Aus Höflichkeit. Ich. Eine Frau, die über Feminismus schreibt. Über female empowerment. Verdammt. WIE KANN DAS PASSIEREN?

Lieber sich selbst verletzen, als andere zu kränken?

Als ich im Zug sitze, der sich auf den ratternden Schienen in Bewegung setzt, löst sich langsam meine Schockstarre. Ich sehe mein Gesicht in der Fensterscheibe und schaue mich fragend an. Draußen zieht die Landschaft im Nachmittagslicht vorbei, vor meinem geistigen inneren Auge sexuelle Historie. War das eben ein Einzelfall? War es das erste Mal, dass ich mehr Nähe zugelassen habe, als mir lieb war, aus dem Grund, nicht unhöflich sein zu wollen? Zwischen Frankfurt und Höchst fällt mir F. ein. Wir verliebten uns während des Studiums, waren ein paar Monate zusammen. Ich weiß noch, wie wir eines Tages einen heftigen Streit hatten, uns hässliche Dinge sagten. Irgendwann war der Zorn alle und bei F. entlud sich die Spannung in Lust. Bei mir keinesfalls, aber ich wollte keine neue Auseinandersetzung provozieren, ich wollte, dass er da blieb, über Nacht, ich wollte in seinen Arm gekuschelt einschlafen, ich wollte, dass alles gut war. Also machte ich mit. Überzeugend. Ich bin sicher, dass er nicht eine Minute lang gemerkt hatte, dass ich nicht bei der Sache war.

Dabei bin ich fremden Männern gegenüber gnadenlos. Wer mich anspricht und meinen Korb nicht akzeptiert, merkt, wie ungemütlich ich werden kann. Im Club teile ich verbal härter aus, als Dieter Bohlen. Aber wehe, jemand ist nett. Vertraut. Wehe, es gab bereits das ganze Spiel zu sehen, dann scheitere ich daran, beim nächsten Mal zu verteidigen, nur bis zu ersten Base zu gehen. Dann will ich nicht enttäuschen, dann will ich niemanden verletzen, dann kommt es mir zu hart vor, abzulehnen. Dass ich dabei auf eine entsetzliche Art hart gegen mich selbst bin, merke ich erst jetzt. Dass ich lieber mich selbst verletze, als hinzunehmen, einen anderen zu kränken, das ist nicht altruistisch. Das ist ungesund.

Bin ich die einzige Frau, die das macht?

Kurz vor Mainz erinnere ich mich an eine Begebenheit mit meinem ersten Freund. An dem er beim gemeinsamen DVD-Abend am obersten Knopf meiner Jeans zu nesteln begann. An dem ich innerlich aufseufzte, denn ich hatte überhaupt keine Lust. Ich weiß noch, wie ich ihm sagte, dass es mir lieber wäre, wir würden heute nur den Film anschauen. Klar, kein Problem, total okay. Beim Abspann küssen wir uns, küssen ist schön. Mein Körper möchte vielleicht mehr, aber meine Seele ist immer noch nicht wild darauf, das auch umzusetzen. Für L. eine schwierige Gemengelage und er fragt sicherheitshalber noch mal nach. Lieb gemeint – mich setzt die erneute Frage allerdings so unter Höflichkeitsdruck, dass ich einwillige. Wider besseren Wissens. Es ist dann ganz okay, aber ich bin auch erleichert, als es vorbei ist. Damals denke ich mir nicht viel dabei. Jetzt bin ich einfach nur entsetzt über mich. Ich steige aus dem Zug, wie in Trance. Was habe ich da eigentlich mein halbes Leben lang gemacht? Und: Geht das nur mir so?

Ich zücke mein Handy. Rufe meine Freundin R. an. Erzähle ihr von meinem unfreiwilligen Knutscherlebnis und frage sie, ob ihr sowas auch schon mal passiert ist. Sie überlegt kurz. Dann fallen ihr gleich drei Erlebnisse ein. Die Argumente sind die gleichen: Er war doch so lieb. Ich wollte ihn nicht kränken. Ich wusste nicht, wie ich sagen sollte, dass ich das nicht möchte. So schlimm war es ja gar nicht. Hallo? Weder wir, noch die Männer, die nichtsahnend mit uns schlafen, wollen wohl, dass wir hinterher darüber sagen: Naja, es war auszuhalten.

Drei Tage und sechs Gespräche mit Freundinnen später dämmert mir: Ich bin nicht allein. Die Geschichten ähneln sich. Auch im Netz werde ich fündig, in dem sehr lesenswerten Artikel „Nicht so schlimm“ von Angela Doe beschreibt es eine Freundin der Autorin so:

„Und wenn eine Frau mit einem Mann Heim geht, bekommt sie selten „nur einen Schlafplatz“. Also hat man eben Sex, weil man dankbar ist für das Dach über dem Kopf, den Typen nicht verärgern will oder womöglich Gefahr läuft, rausgeschmissen zu werden.“ 

„Es war schon okay“, sagt sie, „aber mir kam nie in den Sinn, einen Typen zu fragen, ob es in Ordnung wäre, nur zu übernachten. Ich dachte eben auch, es sei normal, dann auch Sex zu haben.“

Wir müssen unseren Mädchen beibringen, dass sie nicht immer lieb und nett sein müssen!

Wer mich kennt, weiß, dass ich eigentlich für nichts auf der Welt entschiedener kämpfe als für weibliche Selbstbestimmung. Dass ich nicht müde werde, zu predigen, wie sehr wir schon von klein auf darauf getrimmt und sozialisiert werden, nett, lieb und höflich zu sein. Angepasst. Dass wir kleine Mädchen ermahnen, nicht zu laut zu sein, sie für ihre tadelloses Äußeres, ihr ruhiges Benehmen bei Tisch und ihre Artigkeit zu loben. Ich glaube, wir ahnen gar nicht, welche Folgen das bis ins Erwachsenenalter haben kann.

Viele Frauen sagen nicht, was sie denken oder fühlen. Im Job nicht. Und am Ende eines netten gemeinsamen Abends offenbar auch nicht. Aus Angst, zu missfallen. Weil wir nicht oder nur unzureichend gelernt haben, auszuhalten, andere zu verstimmen. Dabei ist es normal, dass nicht alles, was wir wollen oder nicht wollen, auf Zustimmung trifft. Eine Zurückweisung im Bett trifft jeden. Es ist aber kein Grund, trotzdem einfach mitzumachen. Es über sich ergehen zu lassen. Zu schweigen. Dem anderen zuliebe.

Wie tief aber dieses Muster in vielen Frauen verankert ist, zeigt sich schon an unserem Vokabular: nicht umsonst gibt es Formulierungen wie „ich habe sie rumgekriegt“, „sie hat ihn ran gelassen“ – sie implizieren, dass es eine Grenze gibt, die überwunden wird, eine Grenze, die eben eigentlich ein Nein war.

Wir müssen lernen, uns selbst besser zu schützen

Wir müssen lernen, uns selbst besser zu beschützen. Wir müssen uns selbst, unseren Töchtern und Schwestern erklären, dass wir es niemandem schuldig sind, Ja zu etwas zu sagen, wenn wir es nicht wollen. Dass es nicht unhöflich und barsch ist, ein Gegenüber abzuweisen – ganz egal, WIE nett der andere zu uns ist. Es ist unser Körper. Es ist unsere Entscheidung.

Dieser Beitrag erschien bereits auf thirtyplus. Wir freuen uns, ihn auch hier veröffentlichen zu können.

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