Wir sind noch lange nicht gleichberechtigt, so viel ist sicher. Umso wichtiger wäre es, dass wir zusammenrücken, auch und gerade in der Arbeitswelt, in Unternehmen und Konzernen. Hier herrscht ein großer Konkurrenzdruck, und hier haben wir die Chance, solidarisch zu sein, statt die Wunden unserer Kolleginnen zu suchen und den Finger hineinzulegen.
Vor einigen Wochen war ich Teil eines Workshops. Wir sprachen über Utopien und Lösungen für die größten Probleme unserer Zeit. Etwa zwanzig Frauen sammelten mutige Ideen mit intersektionaler Perspektive für eine gerechte Welt.
In meiner Arbeitsgruppe ging es um Care-Arbeit, um den Gender Pay Gap, um alleinerziehende Mütter, um das Ehegattensplitting – und noch viel mehr. Forderungen waren unter anderem mehr Teilzeitarbeit bei Männern, Bezahlung von Care-Arbeit, feministische Erziehung der Söhne, Frauen an die Entscheidungstische, eine Vier-Tage-Woche, Gutscheine für fair bezahlte Haushaltsdienstleistungen und der Ausbau der Kinderbetreuung.
Und ich war während, mitten und nach der Diskussion sehr zerrissen. Denn einerseits spürte ich: Wir haben alle dieselben Themen. Wir sind uns mal einig, mal nicht, aber der Grundtenor ist gleich: Wir streben nach Gleichberechtigung für alle. Aber das Patriarchat ist laut und mächtig. Und wir unterschätzen, was entsprechende Sozialisierung bei uns allen angerichtet und festgetreten hat, auch bei Männern, die anders darunter leiden.
„Wir unterschätzen, dass wir so belegt sind von all dem Antrainierten, dass wir nicht mal mehr richtige Utopien entwerfen können.“
Wir unterschätzen, dass wir noch etwa 131 Jahre auf eine dicke Betonschicht schlagen müssen, bis sich da mal etwas tut. Wir unterschätzen, dass wir so belegt sind von all dem Antrainierten, dass wir nicht mal mehr richtige Utopien entwerfen können. Denn der sofortige, Böses ahnende, ganz vorsichtige Abgleich mit der Realität zerschlägt jeden Gedanken an eine bessere Welt, noch bevor er da ist.
Wir haben jede Menge Probleme, für deren Lösung wir gemeinsam kämpfen könnten. Aber wieso „könnten“? Was soll der Konjunktiv hier? – Was soll überhaupt diese seltsame Headline: „Über Solidarität unter Frauen in Unternehmen“. Das steht ja wohl nicht zur Diskussion, dass Frauen solidarisch untereinander und miteinander sind. Deswegen sind wir ja hier.
Wir alle?!
Der Workshop, von dem ich eingangs erzählte, gestaltete sich anders als erwartet. Denn statt vor allem im Schulterschluss über Utopien und Lösungen nachzudenken, bekämpfte man sich auf dem Weg dorthin. Eine Frau, die seit Jahrzehnten in der Familienberatung sitzt, war genervt von den Tipps der alleinerziehenden Finanzexpertin. Die Finanzexpertin war genervt von der Studentin, die ihrer Meinung nach zu wenig über den Gender Pay Gap wisse. Die Studentin der Politikwissenschaften wurde rot und sagte gar nichts mehr. Und die medienerprobte Referentin versuchte, die unterschiedlichen Lager miteinander zu verbinden, sie wiederholte ständig den Satz: „Hey Leute, wir sitzen doch in einem Boot.“ Später standen alle draußen und ich hörte, wie die Workshopleiterin ins Visier geriet, die hätte das alles doch besser im Griff haben müssen und überhaupt wären andere Themen wichtiger gewesen.
Wir sitzen alle in einem Boot? Ja, genau: Wir alle.
Denn: Frauen werden auch im 21. Jahrhundert noch strukturell benachteiligt.
Frauen verunglücken bei Auto-Unfällen öfter als Männer. Herzinfarkte werden bei Frauen seltener erkannt, weil sie andere Symptome haben als die, die uns beigebracht wurden – weil das die Symptome der Männer waren. Und: Auch die meisten Städte sind für Frauen ein Unsicherheitsfaktor.
Gender Pay Gap, Gender Data Gap, Gender Health Gap, Gender Care Gap…
Gender Pay Gap, Gender Data Gap, Gender Health Gap, Gender Care Gap – die Liste ist lang. Und das alles ist kein Zufall. Schauen wir noch mal in die Arbeitswelt: Nur 1,6 Prozent der von Frauen geführten Start-ups in Deutschland erhalten Risikokapital. Bei den von Männern geführten Start-ups sind es mehr als 10mal so viel, nämlich 17,6 Prozent; der Frauenanteil in den DAX-Vorständen beträgt gerade mal 21,8 Prozent; Frauen verdienen im Durchschnitt deutlich weniger als Männer (18 Prozent); Frauen erfahren sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz sowie sexualisierte Gewalt im häuslichen Umfeld. Frauen übernehmen den größten Teil der Care-Arbeit, also Tätigkeiten, bei denen Menschen für andere Menschen sorgen, wie zum Beispiel Hausarbeit, Kinderbetreuung oder die Pflege von Angehörigen. Viele Frauen reduzieren Erwerbsarbeit, um unbezahlte Care-Arbeit zu übernehmen. Das erhöht ihr Armutsrisiko im Alter; Sexismus gehört für viele weiblich gelesenen Personen zum (beruflichen) Alltag. Sie werden etwa indirekt beim Einstellungsgespräch gefragt, ob sie planen, Kinder zu bekommen, oder wie sie Beruf und Familie unter einen Hut bringen wollen.
Wir alle machen diese Erfahrungen und umso energischer sollten wir füreinander da sein. Umso energischer sollten wir uns für Menschen und marginalisierte Gruppen einsetzen, denen wir nicht angehören. Umso energischer sollten wir gemeinsam aktiv werden.
Solidarität beginnt im Kleinen
Die Solidarität beginnt schon „im Kleinen“:
Ein Rückblick: Ich trat vor vielen Jahren einen neuen Job an, war offen und hochmotiviert. Eine der neuen Kolleginnnen kam direkt auf mich zu, unterstützte mich, erklärte mir alles. Wir übernahmen zusammen ein großes Projekt, das ich redaktionell betreuen sollte. Und ich hatte, wie besprochen, einige Ideen entwickelt und erzählte meiner Kollegin davon.
Einen Tag später saßen wir in einem Call mit unserem Partner und der Geschäftsführung. Und meine Kollegin präsentierte „ihre“ neuen Ideen mit der Betonung auf das Ich: „Ich habe mir da einiges für euch überlegt / Ich bin gespannt, was ihr dazu sagt.“ –
Du bist also neu im Job, voller Energie, Motivation und Vertrauen, das dann durch ein solches Verhalten nachhaltig erschüttert wird.
Vor wenigen Wochen sprach ich mit einer anderen Person über das Thema – mit einer Chefredakteurin, die schon lange im Job ist, andere mitreißt und ihr Wissen gerne teilt. Und sie sagte, es sei doch selbstverständlich, dass wir einander alles gönnen, dass wir uns gegenseitig „in den Sattel heben“, und ich mag diese Formulierung auch irgendwie. Aber ich fühle es nicht immer. Durch Erfahrungen, die ich gemacht habe, hat sich bei mir ein Misstrauen entwickelt. Ein Misstrauen, das ich unterbewusst sicher weitergebe – an Kolleg*innen oder auch an meine Kinder.
„Es wird viel geredet über die Gründe einer patriarchalisch geprägten Arbeitswelt und unserer sexistischen Gesellschaft allgemein, doch nie über den Nährboden, der das Wachstum solcher männlich-dominierten Machtstrukturen begünstigt.“
Caroline Rosales, ZeitOnline
Gerade in stark hierarchisch geprägten Systemen wird oft nicht fair gespielt. Und das ist vielleicht auch nicht verwunderlich, weil die Ellenbogen Teil des Spiels sind. Aber wie viel Energie, wie viel Potenzial geht dabei eigentlich verloren? Auch und gerade bei leiseren Personen, die viel zu lange darüber nachdenken (müssen)? Ist dieser Teil der Arbeitswelt nicht vollkommen überflüssig, gerade wenn wir an das Ergebnis denken und an ein zugewandtes, hilfbereites und lösungsorientieres Umfeld, das wir uns im Grunde doch alle wünschen?
„Es wird viel geredet über die Gründe einer patriarchalisch geprägten Arbeitswelt und unserer sexistischen Gesellschaft allgemein, doch nie über den Nährboden, der das Wachstum solcher männlich-dominierten Machtstrukturen begünstigt“, schreibt Caroline Rosales bei ZeitOnline.
Lasst uns das anders machen. Lasst uns daran arbeiten. Lasst uns einander zuhören. – Ich glaube nämlich, dass nicht nur die Wahrnehmung, sondern das echte, das anstrengende, das ehrliche Hineinversetzen in andere Lebenswirklichkeiten – also die Empathie – ein Schlüssel sein kann für Veränderung. Veränderung im Sinne eines Begreifens, dass es da ein Problem gibt, auch wenn die Auswirkungen des Problems mich und meine eigene Lebenswirklichkeit gerade nicht betreffen.
Wir und ihr
Lasst uns gemeinsam unsere Privilegien überprüfen und die eigene Bubble verlassen. Wir haben ja zusammen eine große Kraft, die wir nutzen können und müssen. Damit wir vielleicht doch irgendwann in einer Welt leben, die alle Menschen sieht, denkt und in Freiheit leben lässt.
„Wie viel fließt in das Formulieren von Idealen, wie viel in die Praxis dieser?“
Kübra Gümüşay
Ich muss häufig an einen Impulsvortrag der Autorin Kübra Gümüşay denken, in dem sie sagte:
„Wie viele unserer Ressourcen fließen in das Durchdringen, die Erfassung und Rekonstruktion unserer Gegenwart. Hinein in die Beweisführung, in den Nachweis dafür, dass es sich um strukturell bedingte, ermöglichte, gestützte und geschützte Missstände handelt. Wie viel fließt in das Formulieren von Idealen, wie viel in die Praxis dieser?“
Die Herausforderung sind die Schritte von der Analyse der Realität hin zur Intervention in die Zukunft. Diese Schritte können wir gehen: gemeinsam, wohlwollend, unbequem, anstrengend – und solidarisch.