Man sieht die Enden von zwei Betten, die aneinandergereiht sind. Das linke Bett hat ein blaues Polster und drauf sitzt ein Junge mit einem blauen Pulli, der sich am Bettende festhält und nach hinten lehnt. Auf dem rechten Bett mit einem pinken Bezug sitzt ein Mädchen mit einer pinken Hose. Sie sitzt mit herangezogenen Knien an die hintere Wand gelehnt und schaut den Jungen an.
Foto: bokan76 | Getty Images

Was heißt das eigentlich: „männlich sozialisiert“ und „weiblich sozialisiert?“

In feministischen Diskursen ist oft von männlicher oder weiblicher Sozialisation die Rede. Diese Bezeichnungen beschreiben in der Regel verinnerlichte Verhaltensweisen, die auf gesellschaftlichen Rollenvorstellungen von Mann und Frau beruhen. Unsere Autorin wünscht sich einen differenzierteren Blick auf das Thema. Ein Kommentar.

Eine Freundin nahm neulich an einem offenen Online-Meeting teil, das als „feministischer“ Diskussionsraum gelabelt war. Dort diskutierte sie mit Frauen, die in intersektional feministischen Kreisen auch als TERFs bezeichnet werden. Die Bezeichnung leitet sich aus dem Englischen ab und lässt sich übersetzen mit trans-exkludierende radikale Feministinnen.

Dabei handelt es sich in der Regel um Frauenrechtlerinnen, die sich an der Anwesenheit von trans Menschen in feministischen Räumen stören und die Kämpfe für die Gleichberechtigung von cis Frauen trennen von jenen der trans Community. Viele TERFs sind außerdem der Überzeugung, dass es biologisch betrachtet nur zwei Geschlechter gibt, was längst wissenschaftlich widerlegt wurde, und negieren deshalb die Existenz anderer Geschlechter.

In dieser Diskussionsrunde wurde meine Freundin, die selbst trans ist, letztlich von den TERFS angeschrien. Als ihre Reaktion dann ebenfalls lauter ausfiel, bekam sie folgenden Satz an den Kopf geworfen: „Da merkt man wieder die männliche Sozialisation!“

Das ist hochironisch. Wieso? Einerseits wurde ihr aufgrund ihres Trans-Seins mit diesem Kommentar unterstellt, dass sie sich wie ein Mann verhalte und ihr damit auch die Legitimität ihres Frau-Seins abgesprochen. Andererseits wurde sie für ihre Lautstärke und sichtbar geäußerte Wut gemaßregelt, wie es insbesondere Frauen im Patriarchat erleben.

Welche Frau kennt es nicht, diskreditierende Sätze wie „Gott, bist du hysterisch!“ oder „Warum wirst du denn jetzt so emotional?“ zu hören, wenn sie berechtigte Wut äußert? Männer hingegen werden kaum dafür ermahnt, in Gesprächen laut und wütend zu werden.

Diese Szene, die sich zwischen den TERFs und meiner Freundin ereignet hat, zeigt gut, dass Rollenbilder gesellschaftlich konstruiert werden und Menschen in Schubladen gesteckt werden, die oft nicht passen, was wiederum enormes Leid verursacht. Vor allem queere Menschen kennen die großen Erwartungen, die an sie aufgrund ihres Geschlechts gestellt werden – welche Kleidung sie zu tragen haben, wie sie zu sprechen haben. Aber das sind nur kleine Ausprägungen des Problems.

Rollenbilder und Erwartungen

Wenn von weiblicher oder männlicher Sozialisation gesprochen wird, ist damit in der Regel das unbewusste, verinnerlichte Denken und Verhalten gemeint. Im Patriarchat sollen Frauen die Rolle der „Sorgenden und Pflegenden“ erlernen und werden eher zurückhaltend und passiv sozialisiert, während Männer mit der Rolle des „Beschützers und Ernährers“ lernen, sich dominant und aggressiv zu verhalten.

Im Alltag lässt sich sehr gut beobachten, welche Muster sich aus dieser Sozialisation ableiten: Frauen, die in Meetings mit Männern nicht zu Wort kommen und wenn sie es versuchen, als zickig und herrisch dargestellt werden; Männer, die in der Bahn den halben Sitz ihrer Nachbarin einnehmen oder auf einem schmalen Gehweg davon ausgehen, dass ihr weibliches Gegenüber ausweicht. Wenn es nach TERFs geht, sind wir alle quasi aufgrund unserer Biologie schon Opfer dieses simplen Musters – also aufgrund unserer Chromosomen oder Genitalien. Doch entspricht das der Realität?

Sozialisation endet nicht mit der Kindheit

Unsere Sozialisation ist ein laufender Prozess und sie ist nicht einseitig. Die Sozialisation beschreibt nicht nur die Einflüsse der Umwelt auf uns, sie beschreibt die Wechselwirkung zwischen uns als Individuum und unserem Umfeld. Genauso wenig ist Sozialisation rein binärgeschlechtlich zu verstehen. Selbst wenn die Rollen von Mann und Frau im Patriarchat nach einer binären Logik funktionieren, heißt das nicht, dass die Art und Weise, in der Menschen diese Geschlechterrollen annehmen und leben, genauso binär sind.

Fälschlicherweise wird Sozialisation gedanklich oft auf die Kindheit beschränkt. Gerade im Kindesalter spielt die Sozialisation eine wichtige Rolle, da Kinder zunächst die grundlegenden Regeln unserer Gesellschaft lernen müssen. Dazu gehören gesellschaftliche Werte – positive, wie zum Beispiel Ehrlichkeit oder Gerechtigkeit, aber auch negative, wie die patriarchalische Ordnung. Mädchen lernen sehr früh, dass für Jungen andere Regeln gelten als für sie. Queere Kinder lernen sehr schnell, dass sie sich an die Cis- und Heteronormativität anzupassen haben. Die meisten Kinder, die kein besonders unterstützendes Umfeld haben, tun das auch – was zu späte(re)n Coming-outs führt.

Das bedeutet allerdings nicht, dass Menschen sich immer zu 100 Prozent brav in ihre Boxen stecken Auch das Individuum hat einen Einfluss auf die Sozialisation. Kinder, die in ihrem Zuhause feministische Werte lernen und danach leben, sind gesamtgesellschaftlich gesehen Ausreißer*innen. Auch Kinder, die als „anders“ oder „nicht normal“ bezeichnet werden, wie zum Beispiel neurodivergente oder queere Kinder, tun sich schwer damit, den genormten gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden.

„Männlich sozialisiert“

Meine eigene Geschichte ist ein gutes Beispiel dafür. Ich habe mich erst mit 19 als trans geoutet. Als Kind wurde ich, weil dem binären Mustern folgend alle davon ausgingen, ich sei ein Junge, auch wie ein Junge behandelt. Das hat eher nicht so gut bei mir funktioniert, was für mich, je mehr Zeit verging, immer deutlicher wurde. Dagegen war das von außen betrachtet gar nicht so eindeutig. Die klassischen Klischees habe ich nicht bedient. Klar, theoretisch fand ich auch Kleider und Puppen interessant. Aber ich hatte nichts gegen meine „Jungs-Klamotten“, hab auch super gerne mit Lego gespielt und fand „Bob der Baumeister“ toll.

Trotzdem habe ich bei den Jungs nur bedingt reingepasst. Ich war schon sehr früh extrem zurückhaltend und passiv. Auch kleine Jungs führen bereits Status- und Machtkämpfe untereinander und streben eine hegemoniale Männlichkeit an. Ich sage zu meinen Freund*innen gerne aus Spaß „Ich war echt schlecht darin, ein Junge zu sein“ und das beschreibt es eigentlich ganz gut. Das hat einerseits dazu geführt, dass ich mit anderen Mädchen eng befreundet war, aber regelmäßig von Jungs erniedrigt und auch misshandelt wurde. Auch dieses Verhalten ist eine Folge der Sozialisation: Ich bin von der für Jungs geltenden Norm abgewichen und wurde dafür „bestraft“.

Wurde ich also männlich sozialisiert? Ich wurde wie ein Junge behandelt. So aufzuwachsen hat, wie bei vielen Männern auch, dazu geführt, dass ich angefangen habe, Emotionen zu unterdrücken. Denn ich wurde, wie viele Jungen, dafür bestraft, Emotionen zu zeigen – eine „weibliche“ Charakteristik, die in einer patriarchal geprägten Gesellschaft natürlich abgewertet gehört.

Ich wurde auch für andere Dinge bestraft, wurde oft „Schwuchtel“ genannt. Wegen meiner „weiblichen“ Art, die anscheinend in meinem Verhalten klar zu erkennen war, was ich allerdings nicht verstanden habe und daher nicht ändern konnte. Vielen schwulen oder bisexuellen Männern ging es in ihrer Kindheit wahrscheinlich ähnlich. Da ich mich allerdings nie auch nur ansatzweise mit dem Schwul-Sein oder der Idee, als Junge in einer Beziehung mit einem Jungen zu sein, identifizieren konnte, war ich hauptsächlich extrem verwirrt. (Ja, die Sexualität hat auch viel mit dem eigenen Geschlecht zu tun, aber mehr dazu vielleicht in einem anderen Text.)

Machtdemonstrationen

Dass ich wie ein Junge behandelt wurde, hat mich also definitiv stark beeinflusst. Nicht nur negativ – ich hatte beispielsweise das Privileg, dass für Care-Arbeit hauptsächlich meine große Schwester verantwortlich gemacht wurde und nicht ich „als Junge“. Also ja, vielleicht wurde ich auf eine Art männlich sozialisiert. Ich wurde aber auch cis und hetero sozialisiert und das bin ich beides ebenfalls nicht. Trotzdem führt es dazu, dass ich mich bis heute teilweise für mein Trans-Sein schäme und mich selbst in Heterosexuelle Beziehungen oder Gefühle dränge – das nennt sich auch Compulsory Heterosexuality (Comphet), auf Deutsch in etwa „Zwangsheterosexualität“.

Ich wurde aber genauso auch weiblich sozialisiert – spätestens seit meinem Coming-Out als trans. Seither werde ich für Care-Arbeit in die Verantwortung genommen und fühle mich dafür auch vermehrt verantwortlich. Ich zeige meine Emotionen wieder. Ich werde wie eine junge Frau behandelt.

Aber unterscheidet sich das so stark von dem, wie es vorher für mich war? Tatsächlich gibt es einen klaren Unterschied darin, als „schwacher Mann“ statt als Frau wahrgenommen zu werden – ich habe ja beides erlebt. Vor meinem Coming-Out konnte ich mich sicher fühlen, nachts alleine unterwegs zu sein, heute nicht mehr. Männer wurden mir gegenüber früher erst abwertend oder feindselig, wenn ich mit ihnen interagiert habe. Dann waren sie aber auch direkter und vor allem aggressiver als wenn sie mich als Frau wahrgenommen hätten – mir wurde oft Gewalt angedroht, und ich habe mehrmals Gewalt erfahren. Auf diese Weise haben Männer oder Jungs damals ihre Macht an mir demonstriert und mich dafür bestraft, die Erwartungen an das Mann-Sein nicht zu erfüllen. Heute erfahre ich deutlich öfter Belästigungen, aber sie sind subtiler. Es ist schwer zu vergleichen, aber ich würde sagen, dass das ganze Catcalling, dass bedrängt und begrapscht zu werden, nicht weniger belastend ist. 

Unsicherheit und Privilegien

Ich fühle mich seit meinem Outing in dieser Welt deutlich unsicherer – trotz meines guten Passings (Passing ist, wenn eine trans Person als cis Person ihres Geschlechts wahrgenommen wird. Für mich bedeutet Passing also, dass ich als cis Frau wahrgenommen werde.). Denn als weißer Mann wahrgenommen – selbst als schwacher Mann, der in der hegemonialen Hierarchie weit unten steht –, genießt man am Ende des Tages immer noch die Privilegien eines Mannes.

Ich stand nicht über anderen Männern, aber immer noch augenscheinlich auf der Seite der Männer. Trotzdem würde ich die Situation insgesamt für mich kaum als Privileg bezeichnen, da sie bei mir hauptsächlich dazu geführt hat, dass ich einen Großteil meines Lebens viel gelitten und mich in meinem Körper und meiner ganzen Existenz unwohl gefühlt habe.

Wurde ich also männlich und weiblich sozialisiert? Vielleicht. Doch ich finde, das fasst nicht das ganze Bild. Obwohl ich binär trans bin, falle ich aus den binären Kategorien von Mann und Frau raus. Bei nicht-binären und inter Personen ist es wahrscheinlich nochmal deutlich komplizierter. Am ehesten würde ich mich selbst als trans weiblich sozialisiert beschreiben. Denn meine Erfahrung als trans Frau unterscheidet sich sehr von den Erfahrungen von cis Männern und cis Frauen. Und was ist eigentlich mit queeren cis Menschen? Ich würde behaupten, dass eine Butch Lesbe auch eine ganz andere Sozialisierung erfährt als eine hetero cis Frau.

Weg von binären Kategorien

Nochmal zurück zum Anfang: Warum eigentlich männlich und weiblich sozialisiert? Am Ende des Tages bedeuten diese Begriffe nur, dass man dem Rollenbild von Mann oder Frau in dieser patriarchal geprägten Gesellschaft entspricht und die damit verbundenen Handlungs- und Denkweisen verinnerlicht hat. Queere Menschen und Feminist*innen leben vor, dass wir aus den binären Geschlechterrollen ausbrechen können, und das sollten wir auch. Das Patriarchat funktioniert nicht, wenn niemand mitspielt. 

Sozialisation ist ein laufender Prozess, wir haben einen Einfluss darauf. Wir können unsere eigenen Verhaltensweisen, die auf unserer Sozialisation basieren, erkennen und sie kritisch hinterfragen. Und wir sollten uns nicht darauf reduzieren. Wir können vielleicht nicht dem System selbst entfliehen, aber wir können als Individuum über die patriarchalen Muster hinauswachsen.

Neue Vorbilder

Vielleicht wäre es auch eine Idee, von dieser binären Trennung wegzukommen und stattdessen beispielsweise von binärgeschlechtlicher oder patriarchaler Sozialisation zu sprechen. Das würde zumindest, um auf die TERFs vom Anfang zurückzukommen, dabei helfen, Menschen nicht auf binäre Geschlechter zu reduzieren und diese auch noch zu werten. Im Patriarchat sind sowohl männliche als auch weibliche Sozialisation scheiße und wir alle leiden darunter. Daraus auszubrechen, wie trans Menschen es bereits sehr gut machen, hilft uns allen. Ich finde, alle könnten sich hier von der trans Community inspirieren lassen und sich trans und vor allem nicht-binäre Menschen zum Vorbild nehmen.

Wenn TERFs trans Frauen als „männlich sozialisiert“ beschreiben, sprechen sie gar nicht wirklich über Sozialisation. Sie nutzen Männlichkeit als Waffe gegen Frauen, was übrigens schon lange vor TERFs eine übliche Taktik zur Abwertung von cis und trans Frauen war. Dennoch fühle ich mich unwohl damit, als männlich sozialisiert oder auf irgendeine Weise als männlich bezeichnet zu werden.

Meine „männliche Sozialisation“, wenn man sie so nennen möchte, ist mit viel Schmerz verbunden. Aber ich bin stolz darauf, trans zu sein und dazu gehört auch dieser Teil meiner Geschichte. Und diese Erfahrungen gemacht zu haben, so intensiv zu erleben, wie es sich anfühlt, als Frau und als Mann wahrgenommen zu werden, geben mir eine deutlich komplexere Sicht auf Dinge als die meisten Menschen es je haben werden.

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