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Warum man Kunst nicht von der Person trennen kann, die sie erschaffen hat

Kunst sollte man losgelöst von der Person betrachten, die sie erschaffen hat? Wer das behauptet, befeuert einen gefährlichen Geniekult. Ein Kommentar von Katharina Alexander.

Kunst über Moral?

Kann man die Lieder von Michael Jackson noch mit gutem Gewissen hören? Seit der Ausstrahlung der Dokumentation Leaving Neverland steht diese Frage im Raum. In der zweiteiligen Dokumentation erzählen zwei Männer davon, wie sie als Kinder jahrelang von Michael Jackson missbraucht wurden. Die Nachlassverwalter*innen des Künstlers verklagten den Sender HBO, der die Doku produziert hat, daraufhin auf 100 Millionen Dollar. Juristisch belegen lassen sich die Vorwürfe nicht. Ein moralisches Urteil wird wohl trotzdem jede*r Zuschauer*in für sich fällen.

Für viele Menschen, die die Dokumentation gesehen haben, bekommt Jacksons Musik nun einen bitteren Beigeschmack. Mehrere Radiosender, darunter BBC Radio 2, entschieden sich dafür, Jacksons Lieder in Zukunft nicht mehr zu spielen. Und die Fans? Für viele lässt sich die Frage nach der Trennung von Kunst und Künstler*in nicht so leicht beantworten.

Der französische Philosoph Roland Barthes plädierte 1967 in seinem Aufsatz Tod des Autors für die Bedeutungslosigkeit von Autor*innenschaft. Ein Text, so Barthes, müsse immer losgelöst von seiner*seinem Autor*in betrachtet werden. Die lesende Person erschaffe den Text, nicht der*die Verfasser*in. Auf die Musikbranche übertragen würde das bedeuten, dass die Emotionen, die Jacksons Lieder bei den Hörer*innen hervorrufen, wichtiger sind als seine Taten.

Doch entziehen wir uns damit nicht der Verantwortung, die wir als Konsument*innen von Musik, von Filmen und Büchern haben? „In Zeiten, in denen im großen Stil Nutzerdaten gesammelt und ausgewertet werden, in denen wir unser Konsumverhalten in Social Media verbreiten, hat jeder Klick Auswirkungen“, schrieb Julian Dörr im SZ Magazin. Und hat damit Recht. Denn jeder Aufruf eines Songs auf Streaming-Plattformen wie Spotify, jede Playlist, in der wir Songs sammeln, hat Auswirkungen darauf, wie häufig Lieder uns und anderen ausgespielt werden – und bringt den Urheber*innen Geld ein.

Das unangreifbare Genie

Alexis Petridis, Musikkritiker beim Guardian, schrieb, die Leaving Neverland-Dokumentation zeige, dass große Kunst von schrecklichen Menschen gemacht werden könne. Dass er damit Recht hat, zeigt ein Blick in die Geschichte. Jahrhundertelang ließen sich die Taten von überwiegend männlichen Künstlern allein mit ihrem Talent entschuldigen. Wer außergewöhnliche Kunst erschuf, musste sich nicht an den moralischen Maßstäben messen lassen, die für den Rest der Bevölkerung galten.

Rembrandt ließ seine Geliebte ins Gefängnis werfen, weil sie ihn erfolgreich auf Unterhalt verklagt hatte. Picasso hatte ein Verhältnis mit einer Minderjährigen. Richard Wagner hetzte gegen Jüdinnen und Juden. Roman Polanski vergewaltigte eine 13-Jährige. Nicht alle diese Taten sind gleichzusetzen mit den Vorwürfen gegen Michael Jackson. Aber sie alle haben einen ähnlichen Ursprung: Einen über jeden Vorwurf erhabenen Künstler, dessen Ruhm durch keine Handlung angegriffen werden kann. Eine weitere Gemeinsamkeit: Sie standen dem Weltruhm der Männer nicht im Wege. Noch heute werden ihre Werke in Ausstellungen gezeigt, in Schulen besprochen. Noch immer besucht die deutsche Kanzlerin jährlich die Inszenierungen von Wagners Opern bei den Bayreuther Festspielen.

MeToo hat ein Umdenken angeregt

Der gesellschaftliche Umgang mit Kunst ist immer wieder geknüpft an Entschuldigungen und Rechtfertigungen. An Umdeuten und Wegschauen. Doch wer immer ein Auge zudrückt, kann nicht klar sehen. Der Umgang mit Musik von Künstlern wie Michael Jackson oder R. Kelly, die beschuldigt werden, Menschen manipuliert und missbraucht zu haben, zeigt, dass langsam ein Umdenken einsetzt.

Das hat auch viel mit der MeToo-Debatte aus dem Jahr 2017 zu tun. Sie führte dazu, dass Männer für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen wurden. Auch sogenannte Genies müssen jetzt damit rechnen, dass Kolleg*innen Zusammenarbeiten kündigen und Werke boykottiert werden. Moralischen Totalitarismus nennen das manche. Gerechtigkeit andere. Denn es braucht einen neuen, menschlicheren Umgang mit Künstler*innen, der sie nicht nur an ihrem Einfluss und ihrem Talent misst, sondern auch an ihren Taten darüber hinaus. In einer Sondersendung zu Leaving Neverland, in der Oprah Winfrey mit den Betroffenen sprach, erklärte die Moderatorin, der Moment transzendiere den Künstler Michael Jackson. Er sei größer als eine Person.

Weg mit dem Geniekult

Die Arbeiten eines*einer Künstler*in entstehen nicht im Vakuum. Sie sind das Ergebnis eines praktischen Arbeitsprozesses. Die Arbeiten und das Arbeiten bedingen einander. Wie Elivia Wilk im Frieze Magazin schrieb: „Work“ ist nicht nur ein Nomen. Es ist auch ein Verb. Das eine ist untrennbar mit dem anderen verbunden.

Wer das nicht einsieht, lässt Betroffene allein, die unter den Taten einer Person litten. Und vermittelt denjenigen, die Ähnliches überleben mussten, dass ihr Leid einen geringeren Stellenwert hat als die Kunst eines Menschen. Dieses ungleiche Verhältnis muss endlich ausgeglichen werden. Der Boykott von Micheal Jacksons Musik ist ein erster Schritt.

Der Originaltext von Katharina Alexander ist bei unserem Kooperationspartner ze.tt erschienen. Hier könnt ihr ze.tt auf Facebook folgen.

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