Vor vier Jahren wurden neun Menschen bei einem rassistischen Attentat in Hanau ermordet. Efsun Kızılay fordert einen Ort der Erinnerung, Hilfe und Betreuung für die Angehörigen und die Professionalisierung der antirassistischen Arbeit in Deutschland. Ein Gespräch.
Dieser Artikel ist Teil unseres EDITION F Archivs und ist erstmalig am 19. Februar 2021 erschienen.
Hinweis: In diesem Interview geht es um Rassismus, Gewalt und Mord.
Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov. Das sind die Namen der neun Menschen, die am 19. Februar 2020 in Hanau bei einem rechtsterroristischen Attentat ermordet wurden.
Vier Jahre ist es her. Bis heute kämpfen die Angehörigen für Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen für die Tat. Eine, die ebenfalls für Aufarbeitung, Aufklärung und Prävention kämpft, ist Efsun Kızılay. Sie arbeitet als Referentin für Migration bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, in politischen Ausschüssen der Stadt Köln und an der Erinnerungsarbeit für Gastarbeiter*innen.
Unsere Autorinnen Fatima Remli und Carmen Maiwad treffen Efsun Kızılay digital und sprechen mit ihr über Hanau, über das Gefühl der Ohnmacht, über Solidarität in Deutschland und darüber, wie wichtig „Kein Vergeben, kein Vergessen“ ist.
Wie hat dich vor einem Jahr die Nachricht vom Attentat in Hanau erreicht?
„Ich habe die Nachricht noch am selben Abend gelesen und direkt an ein rassistisches Attentat gedacht. Ich hatte abends Angst davor, einzuschlafen und am nächsten Tag aufzustehen und zu sehen, dass es wirklich ein rassistisches Attentat war. Genau das hat sich am nächsten Tag bewahrheitet.
Ohnmacht, Fassungslosigkeit, Angst und Enttäuschung und auch Wut, das alles habe ich gefühlt. Ich weiß noch, wie ich aus dem Haus gegangen bin und mich ständig umgesehen habe, ob mich jemand komisch anschaut. Ich hatte Angst, zur Bahn zu laufen und davor, dass mich dort jemand angreift. Ich hatte wirklich Angst um mein eigenes Leben.
Viele andere Menschen, mit denen ich gesprochen habe, hatten dasselbe Gefühl: Menschen haben tagelang ihre Wohnungen nicht verlassen, weil sie Angst hatten und nicht wussten, wie sie mit diesem Gefühl umgehen sollen.“
Seit wann begleitet dich dieses Gefühl der Angst vor rechtsextremer Gewalt?
„Die Fälle, die sich heute ereignen, sind nicht losgelöst von der Geschichte dieses Landes, sie sind eingebettet in eine Geschichte rechter Strukturen. In eine Geschichte der nicht vollständig erfolgten Entnazifizierung. Denn Rassismus besteht immer noch als Kontinuum in diesem Land. Es gab die rassistischen Anschläge der 1990er-Jahre, die vor allem nach der Asylrechtsverschärfung zugenommen haben. Es gab die Brandanschläge von Solingen und Mölln und in Rostock-Lichtenhagen.
Ich bin mit diesen Bildern aufgewachsen, auf denen Häuser angezündet wurden und Menschen bei lebendigem Leibe verbrannt sind. Und deswegen bin ich schon mit dem Gefühl aufgewachsen, dass ich mich in diesem Land nicht so sicher fühlen kann, wie ich gerne würde.“
Wie hast du die gesellschaftlichen Reaktionen auf das Attentat in Hanau wahrgenommen?
„Es ist wichtig, dass man Menschen in seinem Umfeld hat, mit denen man sich austauschen kann, die verstehen, was man an so einem Tag fühlt. Denn während Angehörige nach dem Attentat in Hanau um ihre Kinder trauerten, haben andere Karneval gefeiert, so als wären wir nicht Teil dieser Gesellschaft. Das hat mir gezeigt, dass es Menschen in diesem Land gibt, die den Schmerz von Menschen mit Migrationsgeschichte nicht wahrnehmen, ihn aus dieser Gesellschaft ausschließen und ihn eben nicht zu ihrem eigenen Schmerz machen – weil sie sich nicht betroffen fühlen.
Deshalb ist es wichtig, dass man Menschen um sich hat, die diesen Schmerz und diese Fassungslosigkeit teilen und wissen, dass eigentlich an so einem Tag das Land stillstehen müsste und man nicht rausgeht und feiert, sondern auf die Straße geht und demonstriert.“
Wie hast du die Berichterstattung um Hanau wahrgenommen?
„Am Anfang ging die Berichterstattung wieder in Richtung organisierte Kriminalität, auch in Verbindung mit dem Bild der Shisha-Bars, die als Orte ja sehr stigmatisiert sind und gegen die von rechts gehetzt wird. Auch von Seiten der Polizei wird die Shisha-Bar immer wieder als Bedrohung dargestellt und das wurde von den Medien oft übernommen.
Was mir in der Berichterstattung oft fehlt, ist die Perspektive der Opfer und der Angehörigen. Wo waren die Betroffenen in den Talkshows, die nach Hanau stattgefunden haben und wieso sitzt da ein Alexander Gauland, dessen Partei diesen ganzen Hass befeuert?“
Die Tatorte des Attentats waren ein Kiosk, eine Shisha-Bar und ein Café. In der öffentlichen Wahrnehmung stand die Shisha-Bar im Vordergrund. Das sind Orte, die, genau wie du sagst, immer wieder als potenziell kriminell geframet werden. Wie können wir dem entgegenwirken?
„Menschen müssen verstehen, warum Menschen diese Räume aufsuchen. Denn es sind die Räume von Menschen, die nicht das Privileg haben, einfach in alle Räume reinzukommen. Für sie sind Shisha-Bars und Cafés Safer Spaces, weil sie wissen, dass ihnen da nichts passiert und dass sie da von niemandem rassistisch oder blöd angemacht, diskriminiert oder nicht reingelassen werden. Das sind Orte, an denen Teile der migrantischen Communitys zusammenkommen.
Aber wenn ständig dieses Bild der sogenannten Clan-Kriminalität reproduziert wird, lenkt man den Rassismus auch auf diese Orte und macht sich mitschuldig daran, dass diese Orte angegriffen werden.“
Welche Bedeutung haben Safer Spaces?
„Das sind Orte, wo Menschen sich treffen können und zusammenkommen, um über ihre Sorgen, Ängste und Probleme zu reden, ohne ständig von der Mehrheitsgesellschaft zurechtgewiesen, diskriminiert oder nicht ernst genommen zu werden.“
Brauchen wir mehr dieser Safer Spaces in unserer Gesellschaft?
„Ich wünschte, dieses Land wäre ein Safe Space. Ich wünschte, dieses Land würde Menschen mit Migrationsgeschichte dabei helfen, sich sicher zu fühlen, sodass Safer Spaces überflüssig wären. Aber so ist es nun mal nicht. Dafür müssten wir erst mal anerkennen, dass Rassismus ein Problem dieser Gesellschaft ist.
Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt: Jede*r zweite Befragte äußert sich negativ zu Asylsuchenden; jede*r dritte sagt, dass zu viele ,Ausländer‘ in Deutschland leben und jede*r zehnte stimmt einem biologisch begründeten Rassismus zu. Dieses Land ist kein Safe Space und deswegen sind Safer Spaces wichtig für diese Gesellschaft.“
Jeden Tag werden außerdem vier antisemitische Straftaten in Deutschland begangen, jeden zweiten Tag ein islamfeindlicher Angriff. Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt sind in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Wie findest du trotzdem eine Balance zwischen Erinnern, Trauern und Weitermachen?
„Ich kann keine Distanz dazu aufbauen, es ist immer ein Teil meines Lebens und auch immer ein Teil der Menschen, die eine migrantische Geschichte in diesem Land haben. Ich arbeite auch noch in dem Bereich, ich bin jeden Tag mit rechten Strukturen, Diskriminierung und Rassismus konfrontiert.
Was mir hilft, ist dagegen vorzugehen und Aufmerksamkeit zu erzeugen, mit anderen zusammenzukommen, zu demonstrieren und Solidarität zu schaffen. Mit Menschen, die auch eine Gesellschaft der sogenannten Vielen schaffen wollen. Es hilft mir zu sehen, dass es da sehr viel Solidarität untereinander gibt.“
Hätte Hanau verhindert werden können?
„Ja, das glaube ich. Wenn dieses Land sich mit seinem Rassismusproblem auseinandergesetzt und gesehen hätte, dass man etwas gegen Rassismus tun muss und ihn aufarbeiten muss, indem man zum Beispiel andere rechte Taten wie die Terroranschläge des sogenannten NSU konsequent aufgeklärt hätte – dann hätte Hanau verhindert werden können. Wir haben bei Hanau gesehen, dass der Täter, obwohl er auffällig war, obwohl er gewalttätig war, seit 2013 Sportschütze sein konnte. Die Polizei war da nicht aufmerksam genug. Wie kann jemand, der ein zutiefst rassistisches Gedankengut vertritt und ein rechtsextremistisches Manifest geschrieben hat, unentdeckt einen Waffenschein bekommen und unschuldige Menschen erschießen? Daran ist die Polizei mit schuld, sie hätte das verhindern können.“
Wie genau lautet deine Kritik am Vorgehen der Polizei in Hanau?
„Es gab in der Nacht nur zwei Leitungen, über die Notrufe bei der Polizei in Hanau entgegengenommen wurden und die Menschen sind mit ihren Notrufen nicht durchgekommen. Die Polizei hätte den Terroranschlag vielleicht verhindern können, wenn die Telefonleitungen nicht die ganze Zeit besetzt gewesen wären. Vili Viorel Păun, der den Täter verfolgt hat und später von ihm erschossen wurde, ist mit seinen Anrufen nicht durchgekommen. Wäre er durchgekommen, hätte die Polizei ihm vielleicht gesagt, dass er aufhören soll, den Täter zu verfolgen, weil es gefährlich für ihn ist – oder sie hätten zumindest über seinen Aufenthaltsort Bescheid gewusst.
Wenn der Notausgang der Arena-Bar nicht versperrt gewesen wäre, hätten die Opfer fliehen können. In diesem Fall weiß man auch noch nicht genau, wie da die Rolle der Polizei ist. Einige sagen, dass die Polizei bewusst wollte, dass der Notausgang geschlossen ist, damit Menschen bei Razzien nicht fliehen können.“
Efsun Kızılay ist Politik, Sprach- und Kommunikationswissenschaflerin und arbeitet als Referentin für Migration bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Ihre Schwerpunkte sind Erinnerungsarbeit, Kämpfe der Migration und Antirassismus. Als politische Aktivistin setzt sie sich für eine offene, gerechte und gleichberechtigte Gesellschaft ein.
Welche politischen Maßnahmen forderst du?
„Zuallererst: Dass sich das Land eingesteht, dass es ein Rassismusproblem hat. Außerdem muss man den Familien und den Betroffenen zuhören, ihre Perspektiven müssen endlich in den Mittelpunkt der Politik gestellt werden, auch was die Aufarbeitung der Attentate angeht. Sie müssen therapeutische Betreuung bekommen und finanzielle Unterstützung. Es gibt immer noch Familien, die in Wohnungen wohnen müssen, von denen aus sie direkt auf die Tatorte schauen.
Aber auch der Rassismus in den Institutionen und in den Schulen muss aufgedeckt werden. Wir brauchen antirassistische Curricula in den Schulen, damit Kinder schon sehr früh lernen, was Rassismus ist. Außerdem müssten Initiativen unterstützt werden, wie die Bildungsinitiative Ferhat Unvar, die die Mutter von Ferhat Unvar, Serpil Temiz Unvar, ins Leben gerufen hat, oder die Initiative 19. Februar.“
Die Initiative 19. Februar wurde von den Angehörigen der Opfer gegründet und formuliert vier konkrete Forderungen: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen. Wo stehen wir bei diesen Forderungen jeweils?
„Wir stehen nicht gut da. Wo stehen wir bei der Erinnerung? Es gibt kein zentrales Mahnmal oder Denkmal, das an Hanau erinnert. Wo stehen wir bei der Gerechtigkeit? Die Familien haben teilweise immer noch eine materielle Unsicherheit und erhalten nicht die therapeutische Betreuung, die sie bräuchten. Wo stehen wir bei der Aufklärung? Es wurde immer noch nicht richtig aufgeklärt, was passiert ist oder die Rolle der Sicherheitsbehörden hinterfragt. Und die politischen Konsequenzen als vierter Punkt: Warnsignale wurden und werden immer noch ignoriert. Bei all diesen vier Säulen steht diese Gesellschaft nicht gut da.“
Glaubst du, dass die Politik und die Gesellschaft aus den Attentaten in Halle und Hanau und dem Mord an Walter Lübcke gelernt hat?
„Solche Taten sind immer wie ein Warnschuss, der zeigt, wie schlimm es eigentlich ist. Aber wir hatten jetzt schon so viele Warnschüsse in unserer Geschichte hier in Deutschland und es ist einfach viel zu wenig passiert. Natürlich gibt es Aussagen wie von Frau Merkel, Rassismus sei ein Gift für unsere Gesellschaft. Aber dann passiert doch nichts.
Wir brauchen eigentlich einen Masterplan gegen Rassismus in unserem Land, den Expert*innen und Wissenschaftler*innen mit Migrant*innenorganisationen zusammen ausarbeiten. Im Bundeskabinett gibt es keine einzige Person, die eine Migrationsgeschichte hat. Antirassistische Projekte werden immer nur kurzzeitig gefördert. Es fehlt die Stetigkeit und Professionalisierung, was antirassistische Arbeit in Deutschland angeht. Ich finde es sehr schade, dass solche Taten passieren müssen, bevor Menschen ein bisschen aufwachen, dann aber wieder einschlafen.“
Wie könnte oder müsste kollektives Erinnern aussehen?
„Das größte Problem ist, dass die Geschichten der Betroffenen keinen Ort finden im Erinnerungsnarrativ dieses Landes. Ich wohne in Köln, dort hat der sogenannte NSU 2004 einen Nagelbombenanschlag in der Keupstraße verübt. In dieser Straße gibt es immer noch kein Mahnmal. Die Gesellschaft erachtet diese Orte immer noch nicht als wichtig genug.“
Was bedeutet für dich persönlich „kein Vergeben, kein Vergessen“?
„Dass wir uns immer wieder an das erinnern, was passiert ist. Dass wir uns an die Menschen erinnern, deren Leben von Rassist*innen und Rechtsextremen genommen wurden. Aber auch niemals vergeben, wer an den Taten schuld ist und dass wir immer wieder betonen, in welchem Umfeld sie passiert sind und wer dazu beigetragen hat, dass diese gesellschaftliche Situation als Katalysator für diese rechtsextremen Taten gedient hat.“
Vielen Dank für das Gespräch, Efsun.
„Wenn ihr einen letzten Satz für dieses Interview von mir braucht: Gebt die NSU-Akten frei.“
Mehr Aufklärung über Hanau
190220 – Ein Jahr nach Hanau
Hätte das rassistische Attentat in Hanau verhindert werden können? Dieser Frage gehen auch die Autorinnen Alena Jabarine, Şeyda Kurt, Sham Jaff und Viola Funk im Podcast „190220 – Ein Jahr nach Hanau“ auf den Grund. In insgesamt sechs Episoden blicken sie auf die persönlichen Schicksale der Opfer und deren Angehörigen, auf ein Jahr voller Aktivismus und auf die Rolle der beteiligten Behörden.
Hanau – Eine Nacht und ihre Folgen
Der Dokumentationsfilm begleitet die Überlebenden und Angehörigen, die berichten, wie sie die Tatnacht und die Monate danach erlebt haben. Seit jener Februarnacht kämpfen sie um das Andenken der Opfer und um die Aufklärung des Geschehenen.
Initiative 19. Februar Hanau
Die Initiative 19. Februar Hanau wurde von den Angehörigen und Überlebenden des rechten Attentats in Hanau gegründet. Sie kämpfen gegen das Vergessen, gegen das Verschweigen und gegen die Angst.
Bildungsinitiative Ferhat Unvar
Für den Kampf gegen Rassismus sind Schulen und das Bildungssystem wichtige gesellschaftliche Orte. Serpil Temiz Unvar, die Mutter vom in Hanau ermordeten Ferhat Unvar, hat die gleichnamige Bildungsinitiative gegründet. Sie setzt sich für antirassistische Bildung und Empowerment an Schulen ein.