„I’m a hustler, baby! Aber warum eigentlich?“

Unser neuer Voices Newsletter ist da! In der ersten Ausgabe schreibt EDITION F CEO Lana Wittig über die berühmt berüchtigte Hustle-Culture und wie diese mit ihrer sozialen Herkunft zusammenhängt.

Ich bin gestern an einem Späti in Kreuzberg vorbeigelaufen. „Aushilfe gesucht – 450€ Basis“ stand auf einem Zettel, der im Schaufenster hing.

„Das mach ich“, war mein erster Gedanke.

Ich bin Lana, 37 Jahre alt, seit fast 17 Jahren stehe ich fest im Berufsleben. Aushilfsjobs habe ich schon sehr lange nicht mehr gemacht. Ich bin Geschäftsführerin eines Medienunternehmens. Warum denke ich also darüber nach, im Späti um die Ecke zu jobben?

„Geld macht nicht glücklich“ höre ich oft. Stimmt. Aber kein Geld macht unglücklich, das weiß ich aus eigener Erfahrung.

Lana Wittig

Ich glaube, das hängt mit meiner sozialen Herkunft zusammen. Ich bin Berlinerin, im Wedding geboren, in Tegel aufgewachsen. Wenn Leute fragen, sage ich „zwischen Tegeler See und Tegeler Forst“. Hört sich toll an und idyllisch und ist faktisch gesehen korrekt. Der Part, den ich weglasse, ist: Ich bin in der Hochhausplatte zwischen See und Forst groß geworden. 2,5 Zimmer für 3 Menschen im 12. Stock. Alleinerziehende Mama, die ihr Leben lang mit Krankheit zu kämpfen hatte, Hartz-4-Familie oder wie es vorher hieß: Sozialhilfe.

„Geld macht nicht glücklich“ höre ich oft. Stimmt. Aber kein Geld macht unglücklich, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Kein Geld zu haben, mit diesem Gefühl bin ich groß geworden. Nach Taschengeld hab ich meistens nicht gefragt, weil ich wusste, da ist nicht genug in Mamas Portemonnaie. Deswegen hatte ich auch mit elf Jahren meinen ersten Nebenjob. Deutsch Nachhilfe für Patrick aus der Parallelklasse. Fünf Mark pro Stunde gab’s bar auf die Hand. Und ich hatte Blut geleckt. Geld verdienen stand von da an an erster Stelle. Jeder Job, der sich anbot, wurde vom Fleck weg angenommen. Putzen im Klamottenladen – check. Kellnern – check. Flyer verteilen im tiefsten Winter – check. Als Bunny verkleidet auf der Playboy Party hostieren – check. Alles schwarz, um keine Kürzungen vom Amt zu kriegen.

Als vor zwei Jahren die Pandemie über uns hereinbrach und wir bei EDITION F in Kurzarbeit gehen mussten, kam in mir direkt Panik auf. Ich brauche das sichere Gefühl zu wissen, woher der nächste Gehaltscheck kommt. Während also viele um mich herum darüber gesprochen haben, wie sie gezwungenermaßen endlich mal entschleunigen, hatte ich mir innerhalb von einer Woche schon drei Freelance Jobs besorgt – und damit auf einmal mehr Arbeit als vor der Pandemie.

Als ich 2021 die Geschäftsführung von EDITION F übernommen habe und gleichzeitig schwanger war, habe ich mehr gearbeitet als je zuvor in meinem Leben. I’m a hustler, baby.

Ich bin getrieben von der Angst, nicht genug Geld zum Leben zu haben, obwohl ich weiß, dass das realistisch schon längst nicht mehr der Fall ist. Diesen Glaubenssatz habe ich aus meiner Kindheit mitgenommen und er hält sich hartnäckig. Gefüttert wird meine Angst durch eine Arbeitskultur, die wir in unserem kapitalistischen System seit Ewigkeiten glorifizieren und aufrechterhalten, obwohl so viele Menschen darunter leiden. Burnout, Depressionen, körperliche Beschwerden. All das bringt Hustle Culture mit sich.

Für meine Mitarbeiter*innen möchte ich mit diesem System brechen, stoße aber immer wieder an meine persönlichen und strukturelle Grenzen. Wie drücke ich bei Arbeitszeiten und Work Load auf die Bremse, wenn wir als Unternehmen in einer kapitalistischen Struktur bestehen müssen? Wie bitte ich das Team, die eigenen Grenzen zu respektieren, wenn ich selbst das Gegenteil vorlebe?

Wie bitte ich das Team, die eigenen Grenzen zu respektieren, wenn ich selbst das Gegenteil vorlebe?

Lana Wittig

Für mich persönlich geht der Weg über intrinsische Arbeit, über Reflektion und Wiederholung von neuen Glaubenssätzen.

Für EDITION F gehen wir die Reise Stück für Stück. Offene Kommunikation im Team über unsere mentale Gesundheit ist ein wichtiger Schritt. Überforderungssituationen versuchen wir gemeinsam zu lösen und nicht zu tabuisieren. Dafür haben wir einen Mental Health Tag eingerichtet, den Mitarbeiter*innen einmal im Monat einreichen können. Wir haben feste Kommunikationspausen für die Abende und Wochenenden und wir achten darauf, dass jede*r im Team genug Urlaub nimmt und Überstunden mit freier Zeit ausgleicht.

EDITION F steht für modernen Feminismus, für neue Arbeit. Wir möchten Vorbild sein, eine Leuchtturmposition in Sachen Gerechtigkeit einnehmen. Unser next Step ist daher die Vier-Tage-Woche. Ein langwieriger Prozess, denn er betrifft Gehaltsstrukturen, Unternehmenserfolg, Work Load und vieles mehr.

Gehört ihr auch zu den Hustler*innen wie ich, aber wollt es gar nicht sein? Lasst uns gemeinsam einen Weg aus der Hustle Culture finden.

Dieser Text erschien erstmals im neuen Voices Newsletter, für den ihr euch hier anmelden könnt. Jede Woche teilt darin eine Stimme aus dem EDITION F-Team ihre ganz persönlichen Gedanken zu den Themen Sex, Vereinbarkeit, Popkultur, Mental Health und Arbeit.

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