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Nach der Fehlgeburt: „Es tut weh, meine Trauer nicht zeigen zu können“

„Ich darf trauern, auch nach einem frühen Verlust der Schwangerschaft.“ Unsere Community-Autorin Jennifer Meyer-Ueding hat ihr Kind verloren. Anhand ihrer eigenen Geschichte macht sie deutlich, warum es so wichtig ist, über Fehlgeburten zu sprechen und Trost einzufordern.

Kleine Windräder drehen sich um die Wette. Bunte Steine reflektieren das Sonnenlicht. Rote und gelbe Geranien stehen neben rosa Tulpen. Unsere Jüngste löst sich von meiner Hand und rennt juchzend auf das Grab zu. Ich versuche, den Rollstuhl unseres Sohnes möglichst nah heranzuschieben. Der Friedhof liegt direkt vor unserem Haus. Wir gehen hier häufig spazieren. Die kleine Grabstätte für Sternenkinder ist farbenfroh geschmückt mit Engeln und Stofftieren. „Nichts anfassen“, ermahnt unser Sohn seine Schwester, die gerade einen Stoffbären streicheln will. Ich nehme sie auf den Arm. „Frierst du, Mama?“, fragt sie mich. Ich habe Gänsehaut. Aber nicht, weil mir kalt ist. Ich muss an all die Eltern denken, die ihre Kinder nie oder nur viel zu kurz im Arm halten durften.

Bei den Belastungen, die mit meiner pflegenden Mutterschaft einhergehen, war ich immer dankbar dafür, Mutter zu sein. Ich weiß, Mutterschaft ist nicht selbstverständlich. Viermal war ich schwanger und bin jetzt die Mutter von drei Kindern.

Viele Frauen berichten nach einer Fehlgeburt von Schuldgefühlen oder dem Eindruck, als Frau „versagt“ zu haben. Schuld empfinde ich nicht. Zentral für meinen Schmerz ist der Verlust eines Lebens, eines Babys.

Eine zarte Verbindung

Meine Fehlgeburt erfolgt bereits zwischen der siebten und achten Woche. Dennoch habe ich eine zarte Verbindung zu dem werdenden Leben in meinem Bauch aufgebaut. Das Herz schlägt ab der fünften Woche. Ich mache drei positive Tests, bevor ich anfange, mich zu freuen. An dem Tag, als ich meinem Mann die Schwangerschaft verkünde, spaziere ich lächelnd zum Kindergarten unseres Sohnes. Die Sonne scheint mir ins Gesicht und ich freue mich unfassbar. Ich verspüre keine Angst vor einem möglichen Verlust des Kindes.

Ein bisschen Angst habe ich davor, ein zweites Mal dieselbe Diagnose wie bei unserem Sohn zu erhalten. Dann wäre ich überzeugt, dass ich die Gesundheit meiner Kinder mutwillig aufs Spiel setze. Seine Behinderung, Spina Bifida, kann durch Umweltfaktoren beeinflusst werden. Damals wie heute führe ich prophylaktisch eine erhöhte Folsäurekonzentration zu. Ich tue mein Bestes. Ich bin glücklich. Wir werden ein drittes Kind bekommen. Eine*n Nachzügler*in, die*der unseren Familientisch komplettieren wird. Dieses Glücksgefühl werde ich nicht vergessen. Noch weniger vergessen werde ich, was am nächsten Tag passiert.

Ich ahne, was der Körper vollzieht

Ich habe frei und bin dabei, Unterricht vorzubereiten. Die Arbeitsblätter stapeln sich auf dem Schreibtisch. Mein Bauch zieht sich zusammen. Zunächst nur langsam und leicht, dann heftig und schmerzhaft. Ich muss mich krümmen. Auf der Toilette bemerke ich Blut, viel Blut. Da ahne ich, was mein Körper gerade vollzieht. Unser Haus ist leer. Die Kinder sind in Kindergarten und Schule. Ich lasse die Arbeit liegen und schleppe mich wie in Trance direkt vom Bad auf unser Bett. Dort liege ich stundenlang bewegungslos dar. Meine Arme umschlingen meinen Bauch – so als könnte ich das Baby darin festhalten. Beim geplanten Ultraschall am kommenden Tag hätte ich das Herz des Babys schlagen hören sollen. Aber ich weiß, dass dieses Leben gegangen ist.

Die „Nicht-Reaktion“ auf die Fehlgeburt verletzt mich

Erst kurz vor Kindergartenschluss kann ich mich wieder aufrappeln. Ich rufe meine Frauenärztin an. Die Mitarbeiterin rät mir, abzuwarten. Dies sei „alles normal“ und nur bei Schmerzen solle ich in die Praxis zu kommen. Sonst „würde sich der Abgang von allein regeln“. Die sachlichen Informationen passen nicht zu meinem aufgewühlten Gefühlsleben. Im Kindergarten setze ich ein strahlendes Lächeln auf, als mir unser Sohn im Rollstuhl entgegenfährt. Es tut weh, meine Trauer nicht zeigen und ausleben zu können.

Außer meinem Mann weiß noch niemand von meiner Schwangerschaft. Am Abend nehme ich ihn kurz zur Seite und erzähle ihm von den Blutungen „Wir haben das Baby verloren.“ Seine Reaktion beziehungsweise „Nicht-Reaktion“ auf die Fehlgeburt verletzt mich. Zwar hatte er sich über die Schwangerschaft gefreut, aber der Verlust scheint ihn weder zu schocken noch stark mitzunehmen: „Das passiert häufig. Wir haben zwei bezaubernde Kinder“. Er nimmt mich in den Arm, aber er nimmt nicht wahr, was ich fühle. Während ich meine Tränen herunterschlucke, wechselt er sein Hemd.

Das zugeschnürte Gefühl

Am Abendbrottisch mit den beiden Kindern ist die Fehlgeburt für meinen Mann schon kein Thema mehr. Laut kauend schildert unsere Große, warum ein eigener Hund unseren Haushalt bereichern würde. Ihr Bruder hört gebannt zu und nickt eifrig. Mein Mann antwortet nur „Wir haben doch mit euch Zweien schon genug zu tun“. Mir schnürt es den Magen zu. Ich kann ihn nicht ansehen und beginne wortlos, den Tisch abzuräumen. Am nächsten Tag decke ich den Tisch wieder auf, mache Frühstück. Auch am Tag darauf und am Tag danach. Das zugeschnürte Gefühl, meine innere Leere überdauert noch lange.

Ein Jahr später werde ich erneut schwanger. Das Kind bleibt bei uns. Auf unserem Spaziergang über den Friedhof umarmt sie mich fest. „Nicht frieren, Mama“, flüstert sie mir ins Ohr. „Ich wärme dich.“ Und das tut sie.

Darüber reden ist wichtig

Kein Kind kann ein anderes ersetzen. Jeder Verlust ist anders. Jede Trauer ist anders. Mein Mann und ich haben uns erst jetzt, Jahre nach der Fehlgeburt, ausgesprochen. Ich musste meine Gefühle offenlegen, damit er sie mitfühlen konnte. Er hat den Verlust anders erlebt. Das ist ok. Nicht ok wäre es, mir meine Trauer abzusprechen. Das habe ich selbst zu lange getan.

Die Ehrlichkeit einiger Frauen des öffentlichen Lebens, von Marie Nasemann bis Michelle Obama, haben mir geholfen, mir meine Gefühle zuzugestehen. Auch abseits der Öffentlichkeit sollten wir über unsere Erfahrungen und Empfindungen reden. Ich will meinen frühen Verlust nicht mit anderen Abschieden gleichsetzen. Aber ich will über ihn reden. Weil jede*r Trauernde getröstet werden sollte.

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