Wem etwas Schlimmes widerfährt, hat manchmal das Gefühl, nur für eine bestimmte Zeit trauern zu dürfen. Miriam Kegel ist Psychologin und schreibt in unserer Community darüber, warum Gefühle kein Ablaufdatum haben.
Es muss niemals „gut“ sein!
„Jetzt muss es aber doch langsam mal gut sein!“
„Jetzt reiß Dich doch mal zusammen!“
„Ich verstehe nicht, warum Du….“
„Ich an Deiner Stelle würde…“
Kommen Dir diese Sätze bekannt vor? In welchen Situationen hörst Du
sie und welche Gefühle lösen sie bei Dir aus? Ich möchte heute über die Bedeutung erlebensverneinender Kommunikation schreiben und was sie mit Dir, mit mir, mit uns allen, mit unseren fundamentalen Lebensgefühlen macht.
Als Psychotherapeutin habe ich mich im letzten Jahr auf die Beratung nach Trennung spezialisiert und alle meine Klienten berichteten mir von einem, wie ich finde, ausgesprochen interessanten Phänomen:
Nach einem gewissen Zeitraum X hat das soziale Umfeld entschieden, dass es jetzt „gut sein muss“. Es müsse jetzt gut sein mit: Der Traurigkeit, der Verzweiflung, der Ohnmacht, der Wut, dem Gedankenkreisen um die Erlebnisse, die eine Einsortierung benötigen und vor allem: den Gesprächen über die verlorene Beziehung.
Der Tag ist erreicht – Schluss mit Traurigkeit!
Egal, wie schmerzhaft der Trennungsprozess war, wie viele Jahre meine
Klienten mit ihren Partnern zuvor verbracht hatten, wie viele Schockerlebnisse sie verarbeiten mussten – all das spielt keine Rolle, denn in unserer Gesellschaft wird der Raum für negative Emotionen immer enger gesteckt. Wir leben in einer subtilen Erwartungshaltung an uns selbst und andere, dass wir möglichst schnell „vorankommen“, möglichst schnell „wieder auf die Beine kommen“, dass wir „endlich wieder nach vorne gucken“ und die „Erlebnisse überwinden müssen“, da letztlich doch „alles machbar“ ist, wenn wir nur die „richtigen Knöpfe“ drücken.
Doch was macht das mit uns? Was macht es mit einem Menschen, der sich in einem Schmerz befindet, über den er gerne sprechen möchte, wenn er die Botschaft bekommt „Es muss doch jetzt mal gut sein!“?
Es führt zu dem grundlegenden Gefühl nicht richtig zu sein. Nicht richtig zu sein, mit dem was man empfindet und kein Recht darauf zu haben. Denn wenn es doch jetzt gut sein muss und das für mich nicht so ist, dann muss doch mit mir selbst etwas nicht stimmen, oder? Wenn alle anderen in meinem Umfeld an meiner Stelle doch genau wüssten, was zu tun ist, ich es aber gerade nicht weiß, dann zeigt es doch nur, dass ich unfähig bin die richtigen Entscheidungen zu treffen, oder?
Ratschläge sind auch Schläge
Die Abwärtsspirale aus Selbstabwertung dreht sich weiter und weiter. Und wir isolieren uns, denn wir wollen die gut gemeinten Rat-Schläge, die uns in Wirklichkeit kleiner und kleiner werden lassen, nicht mehr hören. Tief in unserem Inneren merkt der gesunde Anteil in uns, dass wir uns schützen müssen, wenn wir unsere wahren Emotionen im Kontakt mit Anderen nicht mehr zeigen dürfen ohne abgewertet oder besserwisserisch beraten zu werden – und so ziehen wir uns immer mehr in uns selbst zurück.
Erlebensverneinende Kommunikation führt zu Einsamkeit, zu Fassade und zu Selbstverleugnung
Wir Menschen lernen immer mehr nur noch das zu zeigen, was auf Anerkennung stößt. Für alles andere brauchen wir dann meine Berufsgruppe – die Psychotherapeuten. Denn irgendwo müssen die unterdrückten Gefühle doch einen Platz bekommen. Genau deshalb gibt es die Volkskrankheit Depression und die Menschen strömen reihenweise in unsere Praxen!
Denn was tun wir Psychotherapeuten?
In der Schematherapie arbeiten wir mit dem verletzten und dem wütenden Kind. Wir sagen: Ja, Du hast ein Recht auf Deine Trauer und Deine Wut! Und ja, es kann auch beides da sein! Wir zeigen Patienten, wie sie den Zugang zu all ihren Gefühlen finden können, statt bestimmte negative Emotionen auszuschließen.
In der Akzeptanz- und Commitmenttherapie versuchen wir Menschen in
einer völlig bewertenden Gesellschaftsstruktur mühsam beizubringen, sich selbst nicht ständig zu bewerten. Wir bringen ihnen bei, ihrem eigenen Erleben Akzeptanz entgegenzubringen.
In der Traumatherapie geben wir negativen Erlebnissen aus der Vergangenheit einen Raum und betten diese langsam und behutsam in ein schrittweises Neuerlernen von Vertrauen ein. Denn wir wissen, es ist in Wirklichkeit gar nicht so einfach, Erlebnisse, die die Grundfesten unseres menschlichen Sicherheitsgefühls verletzt haben, zu „verarbeiten“.
In der Musik-, der Kunst- und der Tanztherapie zeigen wir Menschen wie
sie ihre Gefühle ausdrücken können, wie sie diese in den Raum bringen können, statt in sich zu verkapseln. Denn wir wissen, Gefühle verschwinden nicht einfach so, wenn sie nicht ausreichend wahrgenommen werden!
Ja, wir machen den Raum auf in einer Gesellschaft, in der sich der Raum für einen Großteil unseres menschlichen Erlebens zunehmend schließt. In der wir alle, wenn wir nach unseren Facebookseiten gehen, ständig gut gelaunt sind, den tollsten Aktivitäten nachgehen, super aussehen, ja einfach ein geiles Leben haben, was wir durch entsprechende Posts immer wieder bestätigen müssen. Alles andere würde ja unserer Außenwirkung schaden! Und Außenwirkung ist heutzutage alles!
Mehr Schein als Sein?
So wurde auch ich selbst kürzlich von einer Freundin angesprochen, ich sollte doch mal überdenken, was ich auf Facebook so veröffentliche. Von mir als „Psychologin“ würde man etwas anderes erwarten. Meine Posts könnten dazu führen, dass andere Menschen nicht mit mir zusammenarbeiten wollen würden. Was hatte ich getan?
Ich hatte gewagt, auf meiner privaten Facebookseite über den Ärger, den verschiedene Baustellen, die sich während meines privaten Umzugs in den letzten Monaten ergeben hatten, wiederholt zum Ausdruck zu bringen. Ich hatte es gewagt, meinen Ärger, meine Ohnmacht und meine Resignation – durchweg negative Gefühle – zu kommunizieren und sowas macht man nicht als Psychologin, meinte meine Freundin. Der von mir als Rüge erlebte Ratschlag löste sofort Schamgefühle in mir aus. Ich brauchte eine Weile, um alles einsortieren zu können.
Ihre Rückmeldung und Empfehlung, mich in meinem Ausdruck über negative Erlebnisse zu begrenzen, gab mir kurz das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, und ich brauchte eine Weile, um das tiefe Nein in mir, das sich gegen die so vernünftig klingenden Worte meiner Freundin formulierte, zu verstehen.
Reiß dich zusammen
Ich als Psychologin stehe nicht für eine Gesellschaft, in der wir Menschen kontinuierlich lernen, nur einen Teil unserer Gefühle zu zeigen. Ich stehe nicht für diesen krankmachenden Umgang miteinander, der Menschen ihre Authentizität nimmt. Ich muss nicht einem vermeintlichen Berufsethos folgen, der mein menschliches Erleben einschränkt, mich aber nach irgendwelchen Kriterien vermeintlich kompetent erscheinen lassen.
Gerade ich als Psychologin habe die Aufgabe für die Vielfalt des menschlichen Erlebens Raum zu schaffen und Akzeptanz für Menschliches, ja allzu Menschliches, zu üben! Und das schließt mich selbst selbstverständlich mit ein.
„Sie sind der einzige Mensch, bei dem ich mich mit allen meinen Emotionen wahrgenommen fühle“.
Diese Rückmeldung habe ich in den letzten Wochen von einem Patienten bekommen und genau das ist für mich das schönste Kompliment gewesen, das ich in meiner bisherigen Berufslaufbahn erhalten habe. Ja, mein Weg geht weiter genau da lang, wo ich als Mensch und Psychologin authentisch sein darf und authentisches Sein fördern kann.
Für unsere Gesellschaft, die wir alle mitgestalten, wünsche ich mir, dass wir alle es schaffen, uns darin zu üben, unsere Menschlichkeit wieder in aller Tiefe spüren zu können. Ich wünsche mir, dass wir Worte finden wie:
- „Ich fühle Deinen Schmerz, was kann ich für Dich tun?“ um Hilfe anzubieten
- „Ich spüre Deine Traurigkeit, und ich habe diese Traurigkeit auch schon erlebt.“ um Gemeinsamkeit zu schaffen
- „Ich merke, es geht Dir nicht gut, aber heute kann ich Deine Probleme nicht gut aufnehmen, weil ich selbst überlastet bin.“ um Abgrenzung verständlich zu machen
- „Warum hast Du es so und so gemacht?“ um Interesse zu zeigen statt mit einem Ratschlag „Ich an Deiner Stelle würde…“ Überlegenheit zu kreieren.
Ich wünsche mir mehr Menschlichkeit und mehr Respekt vor unseren
Gefühlen! Und ich bin mir sicher, dass wir alle davon profitieren würden.
Ein Artikel von Diplom-Psychologin Miriam Kegel
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