Foto: Andrey Maximov | Flickr CC 2.0

„Wenn Du erstmal Kinder hast, weißt du, was Stress WIRKLICH bedeutet!“ Was soll das?

„Einfach sein Ding machen“ kann manchmal verdammt schwierig sein. Vor allem dann, wenn von allen Seiten gut gemeinte Ratschläge kommen, weil sie denken, sie wüssten wie das wahre Leben auszusehen hat. Andrea Mut plädiert für eine offene Gesellschaft, in der jede*r machen kann, was sie*er will.

Wenn Freunde sich in unterschiedlichen Lebensphasen befinden, kann es schwierig werden

Neulich im Café: Endlich haben eine Freundin und ich es geschafft, mal wieder einen Kaffee zusammen zu trinken. Ganz wie in allen Zeiten? Eine fatale Illusion! Meine Freundin ist seit einigen Monaten Mutter und hat ihren Fokus und ihre Prioritäten naturgemäß so verschoben, dass eine früher ganz einfach mögliche Verabredung heute zu seinem sehr komplexen und planungsintensiven Event geworden zu sein scheint.

Wir sitzen also an unserem Tisch, Klein – nennen wir ihn mal Leo, um die Anonymität zu wahren- schläft zur Abwechslung, so dass wir uns ein paar Minuten ungestört unterhalten können. Auch unsere Unterhaltungen haben sich nach der Geburt von Leo thematisch drastisch verändert – entweder ich frage aktiv nach ihm (möchte ja weiterhin am Leben meiner Freundin Anteil nehmen, und der Kleine ist schon echt knuffig), oder meine Freundin redet sowieso von ihm.

Das ist einerseits total verständlich, aber trotzdem vermisse ich unsere anderen Themen, zum Teil auch die banalen Dummschwätzer-Attacken, die keinerlei Sinn haben, aber einfach Spaß
machen. Aber im Vergleich zu so wichtigen Themen wie dem zu 1000 Prozent aus Biozutaten bestehenden Karottenbrei ist das natürlich alles profan und unbedeutend. Oder?

Ich versuche also trotzdem zu erzählen, dass ich vor kurzen ein ziemlich stressiges Projekt auf der Arbeit hatte, und dann kommt der Killersatz, den ich mittlerweile so sehr hasse, wie ein Veganer ein saftiges Steak: „Ach Süße, wenn Du erstmal Kinder hast, weißt Du, was WIRKLICHER Stress bedeutet, aber Du machst halt erstmal Dein eigenes Ding. Das muss jeder selbst wissen, welche Prioritäten er setzt.“

Nett gesagt, klingt aber trotzdem scheiße.

Die H-K-B-Fraktion: Mehrheit heißt nicht kompetent

Denn der Tonfall, den meine Freundin dabei anschlägt, hat neben aller „Toleranz“ für mein „eigenes Ding“ einen etwas maßregelnden selbstgefälligen Unterton à la: „Du wirst schon noch erkennen, was im Leben wirklich wichtig ist“ – und darauf reagiere ich mittlerweile total
allergisch.

Ja ich gebe zu, ich bin mittlerweile darauf getriggert, und sobald ein Satz in dieser Richtung fällt, geht mein Puls hoch wie auf der Achterbahn. Und vielleicht übertreibe ich auch etwas. Aber Kern meines Ärgers, meines Frusts und ja, meiner Verzweiflung ist, dass ich das Gefühl habe, von der Überzahl der Häuslebauer, Kinderzeuger und Bäumchenpflanzer immer mehr in eine egoistische Ecke gestellt zu werden, in der sich außer mir nur noch ein paar weitere versprengte Ego-Individuen tummeln, die scheinbar noch nicht erkannt haben, worin der wirkliche Sinn des Lebens besteht – und deshalb halt mangels höherer Erkenntnis irgendwie „Ihr eigenes Ding machen“.

Nicht falsch verstehen: Ich finde Kinder super – auch wenn ich noch keine habe. Vielleicht kommt das noch, vielleicht auch nicht. Mein Leben ist bunt so oder so.

Fehlende (mentale) Bewegung macht träge und fett

Und ja: Jeder, der eine aufrichtige Erfüllung in dem konventionellen Gesellschaftsmodell sieht und es aus vollem Herzen unterstützt, sich nieder zu lassen, soll das bitte tun und genießen! Ich habe vor jeder aufrichtig getroffenen Wahl des jeweiligen Lebensstils Respekt.

Ich würde mir nur wünschen, dass dieser Graben, der unweigerlich in den 30ern zwischen Menschen mit und ohne Kindern entsteht, leichter zu überbrücken ist.

Warum diese völlig unberechtigte Arroganz derer, die sich (in den meisten Fällen völlig unreflektiert) für den konventionellen Lebensentwurf entschieden haben, um bloß auf der sicheren „normalen“ Seite des Lebens zu stehen? Die eine jahrzehntelange Hypothek als Statussymbol der Vernunft betrachten und sich im Moment gegenseitig bestärken, wie vernünftig und erwachsen es ist, sich mit Mitte 30 so zu settlen, dass man nie mehr umziehen und sich bewegen muss.

Und dabei oft genüsslich alle die als unvernünftig und kindisch aburteilen, die sich noch ausprobieren und bewegen wollen.

Sind sie wirklich auf der Sonnenseite der normgerechten Normalität – oder spielt die gemeinsam gelebte Bequemlichkeit dabei ebenfalls eine tragende Rolle?

Kann ein Lebensentwurf denn überhaupt richtig oder falsch sein?

Ist das Verhalten der Mehrheit, das einer lang tradierten gesellschaftlichen Norm folgt, automatisch richtig? Ich glaube nicht. Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder für sich selbst entscheiden soll, was für ihn passt – aber es sollte eben eine aktive und gut überlegte Entscheidung sein und nicht lediglich ein Nachäffen dessen, was die Eltern, die Großeltern und Tante Lisbeth gemacht haben. Die Mehrheit hat die Wahrheit nicht gepachtet.

So oft lese ich Artikel mit so prägnanten Überschriften wie „Scheiß auf alle“, „Tu, was Du willst“ – das sind gute Ratschläge, die super klingen und den Anschein erwecken, es sei total easy, sich selbst treu zu sein und das zu tun, was man will, wenn man nur im Kopf immer schön die „Fuck-it“-Taste drückt.

„Mach Dein eigenes Ding“ kann aber unglaublich schwer sein, wenn man gegen alle diese Konventionen und die damit verbundenen eigenen Glaubenssätze ankämpfen muss. Wenn man sich gefühlt ständig rechtfertigen und gegen alle möglichen Übergriffigkeiten wehren muss, die viele „Normalos“ oft völlig gedankenlos raushauen.

„Und wann bist Du endlich schwanger?“

„Wie keine Kinder? Verhütest Du etwa noch?“

„Na ja, jeder muss selbst wissen, wann er erwachsen wird.“

„Was nochmal eine neue Fortbildung, willst Du Dich denn nie mal festlegen?“

Es kotzt mich an!

Was ist „falsch“ daran, sich konstant weiterentwickeln zu wollen? Sich auszuprobieren, die Welt zu bereisen, den Horizont zu erweitern und ein Leben lang dazu lernen zu wollen?

Lasst mich doch einfach machen!

Es ist wahnsinnig anstrengend, dauernd die für ein selbstbestimmtes Leben nötige Stärke aus sich selbst zu ziehen und mit Energie und Begeisterung zu verfolgen. Gott sei Dank gibt es ein paar Gleichgesinnte (und die meisten der „Vernünftigen“ landen mit 50 sowieso in
der Midlife-Crisis und kaufen sich den Sportwagen und mieten sich einen „Tennislehrer“ – um auch hier die Klischees zu bedienen).

An alle da draußen, die spüren, dass sie etwas Anderes vom Leben erwarten als das herkömmliche Familie-Haus-Hypothek-Modell:

Macht euer Ding, und ganz wichtig: Bleibt bei euch! Eure innere Stärke ist die einzige Hypothek, auf die ihr wirklich bauen könnt. Sie kostet nichts, und bringt euch nur Erträge.

Lasst euch nicht von den vielen Lemmingen runterziehen, die euch weismachen wollen, ihr hättet nur noch nicht erkannt, was richtig ist. Sucht euch Menschen, die euch verstehen, bestärken und inspirieren. Umgebt euch mit Menschen, die euch gut tun – und lasst die anderen außen vor.

Hört auf euren Bauch, euer Herz und befragt auch euren Kopf, wenn Ihr vor wichtigen Entscheidungen steht. Euer eigenes Ding ist Gold wert. Das Leben ist zu kurz, um das Ding eines anderen zu machen!

Artikelbild: Andrey Maximov | Flickr

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